Rezension

Beach House

Depression Cherry


Highlights: Levitation // Space Song // Beyond Love // 10:37 // Wildflower
Genre: Dreampop
Sounds Like: Beach House // Grizzly Bear // Wild Nothing // Destroyer // Luna

VÖ: 28.08.2015

Jeder gute Roman hat einen richtig guten Anfang. Die Kunst des Romanschreibens gebietet es praktisch, mit seinem Anfang die Segel zu setzen, für das, was kommt. Der Anfang versetzt den Lesenden in die Stimmung, die Sprache, den Ausdruck des Geschriebenen. Er holt ihn an den Ort, an dem die Erzählung stattfindet. Wäre „Depression Cherry“, das fünfte Studioalbum von Beach House aus Baltimore ein Roman, es wäre ein brillianter. Es ist aber viel eher ein großartiger Gedichtband, und, hoppala, zum großen Glück auch einfach eine Platte. Gefühlt jedoch ist „Depression Cherry“ eine einzige, neun Songs andauernde Reise. Gemein mit brillianten Romanen hat es den brillianten Opener, der den Hörenden an den Ort holt, an dem die Kunst der Platte existiert.

Die Kunst ist ein holistisches Zusammenspiel aus Komposition, Sound und Text. Der Ort, an dem sie existiert, ist das tiefste Innere desjenigen, der sie hört. Für die Band ist „Depression Cherry“ eine „Farbe, ein Ort, ein Gefühl, eine Energie... die den Ort beschreibt, an dem du ankommst, wenn du dich durch die endlosen Sphären der Existenz bewegst“. Dieser Ort ist ein Ort, an dem „sie niemals vorher waren“. Das Hören der Platte entführt uns an diesen Ort, es ist wie ein langer, tiefer Gefühlsflow, ein völliges Abtauchen in das Selbst, mit der Platte als Mantra. „Depression Cherry“ umgibt diese tiefe, in sich gekehrte Weisheit ganz großer Kunst, die inspiriert und so schafft, dass der Hörende sich an sich selbst bereichert.

Der Opener, den es nun allmählich konkret zu thematisieren gilt, heißt „Levitation“ – Schweben. Er erschafft bei nahezu jedem Hördurchgang in jeder Situation einen Moment, in dem man am liebsten alles stehen und liegen lassen und nur diesem Song lauschen möchte. Wenige Gedichte schaffen es, so treffend zu beschreiben, wie es sich anfühlt, sich zu verlieben. „You should see // there’s a place I want to take you // when the train comes I will hold you // ’cause you blow my mind“ heißt es, weiter: „On the bridge // levitating ’cause we want to // when the unknown will surround you // there is no right time“. Vage hält sich Victoria LeGrand in ihrer Lyrik, so vage, dass jeder seine eigenen Erfahrungen, Gefühle und Sehnsüchte in die Texte projizieren kann. Es lohnt sich, den kompletten Text zu lesen, hier Auszüge zu nehmen, fällt schwer.

Das Schönste an diesem Schwebe-Gedicht ist, dass es auch noch ein Song ist. Wie sich hier behutsam und Schritt für Schritt die Elemente zusammenfügen, der Song sich langsam aufbaut, alles am richtigen Platz ist und von nichts zu viel, ist schlicht überwältigend. Die Wendungen der Stimmlage, die spät einsetzende Gitarre, die dann wieder mit dem Rest verschmilzt, das ist pure Gänsehaut. Der Song endet auf die einzige Art, auf die er enden könnte: Er versinkt in seiner eigenen Schwebe.

Der großartige Text und die dazu perfekt-behutsame musikalische Untermalung, darin steht „Levitation“ programmatisch für „Depression Cherry“ und daher liegt auch die Analogie zu Romananfängen nahe. Während etwa das Vorgängeralbum „Bloom“ sich völlig auf den letzten Song „Irene“ hinentwickelte, entfaltet sich diese Platte von „Levitation“ ausgehend. Und sie entfaltet sich auch beim Hörenden mit jedem Durchgang mehr und mehr, ist ein absolutes Grower-Album. Auch auf ihrem fünften Album bleiben Beach House dem eigenen Dream-Pop-Sound aus warmen Orgeln, Drum Machines und sphärischen Stimmen mehr als treu – sie dringen an seinen Kern hervor. Zur Entstehung der Platte hat die Band den kommerziellen Kontext, in dem sie existiert, völlig ausgeblendet und sich völlig auf sich besinnt. Dort, ganz bei sich, scheinen Victoria LeGrand und Alex Scally genau richtig zu sein.

Denn dort entsteht ein großartiger Song nach dem anderen. Ungewohnt fuzzige Gitarren in „Sparks“ erwecken nicht aus dem Traum der Platte, sie intensivieren ihn nur in Zusammenspiel mit den nach fernen Sehnsüchten klingenden, warmen Orgeln. „Space Song“ läuft lässig über einen knackigen Bass, und „Beyond Love“ ist ein erhabener, großer Popsong, der völlig verzaubert. An dem Ort, an dem „Depression Cherry“ existiert, ist „Beyond Love“ der geheimnisvolle Garten irgendwo oben in den Wolken. „Beyond love // you wanted to find ever since I didn’t understand // they take the simple things inside you // and put nightmares in your hands“.

Schwer fällt es, abgesehen vom Opener, Songs hervorzuheben. „Depression Cherry“ ist ein langer Traum für sich, jeder Song trägt dazu gleich stark bei. „10:37“ ist der behutsame Beitrag. Wenn nur zu Mehrstimmigkeit und Drum Machine der Rest des Songs am Ende wieder einsetzt, wird klar, dass es stimmt, dass Beach House oft einen Teil eines Songs für drei Stunden laufen lassen und darauf warten, dass der nächste Teil an seinen richtigen Platz fällt. „PPP“ kommt mit ein wenig Spoken Word, „Wildflower“ ist der nächste unglaublich gute Popsong. „Sky what’s left above it“.

Mit dem Closer „Days Of Candy“ setzen Beach House den Schlusspunkt eines langen Traums, dem eigentlich nichts mehr folgen muss. Und der auch nicht daran scheitert, woran viele potentiell großartige Alben scheitern: an der Länge. In neun Songs ist hier alles gesagt. Die Platte hätte die Band nicht zuvor machen können, sagt sie selbst. Und genau so ist es – es fühlt sich so an, als sei alles, was Beach House bislang gemacht haben, der logische Weg zu diesem Meisterwerk gewesen. Möge dies hier ihre letzte Platte sein – hoffentlich nicht – dann wäre das okay so. Denn ihr Denkmal für die Ewigkeit haben sich Beach House nun geschaffen. Hier sind Alex Scally, Victoria LeGrand und alle die ihnen zuhören ganz bei sich. Mehr inneres Erlebnis mit einfach nur neun Songs geht nicht.

Daniel Waldhuber

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