Rezension

The National

Alligator


Highlights: Secret Meeting // Baby, We'll Be Fine // Mr. November
Genre: Indie
Sounds Like: Nick Cave & The Bad Seeds // Tindersticks // Joy Division

VÖ: 11.04.2005

Es passiert ganz selten. Urplötzlich taucht eine Band auf, von der man voher noch nie was gehört hat. Zufällig schnappt man irgendwo einen Song auf, den man ganz gut findet, kauft sich dann aus einem nicht erklärbaren Grund die Platte und wird bereits nach dem ersten Hören weggeblasen. In solchen Momenten merkt man erst, wie gut es tut, mal ohne große Erwartungen oder durch eine Hype beeinflusste Haltung an ein Album heranzugehen.

Nachdem die letzten Töne von "Alligator" schon längst verklungen sind und man sich dabei ertappt, wie man trotzdem noch mit offenem Mund in die Stille lauscht, schießt unweigerlich nur eine Frage in den Kopf: Wer zur Hölle ist das eigentlich, der knapp 50 Minuten die Welt still stehen lässt? Die Mitglieder von The National stammen alle aus der tiefsten Provinz. Der Musik willen schmissen sie ihre Jobs um in New York, wo auch sonst, gemeinsam die Musik zu machen, die für alle Melancholiker da draußen die neue Offenbarung sein dürfte. Herzzereißende Melodien tanzen in sanftem Einklang mit der gesungenen Poesie von Sänger Matt Berninger, dem man bei jedem Wort förmlich an den Lippen hängt.

Schon beim wunderschönen Opener "Secret Meeting" läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Wann wurde eigentlich zum letzten Mal das Wort Sehnsucht so authentisch vertont? Zu diesem Zeitpunkt hat man allenfalls eine vage Ahnung, was die folgenden Songs mit der eigenen Gefühlswelt anstellen werden. In "Daughters Of The Soho Riots" kriecht die Stimme Berninger´s förmlich in den Kopf und lässt alles andere plötzlich so unheimlich unwichtig erscheinen. Wie man ein Orchester einsetzt, welches so perfekt mit den unglaublichen Gitarrenlinien zusammenarbeitet, aber gleichzeitig nicht mal im Ansatz kitschig wirkt, zeigen besonders "City Middle" und "Baby, We´ll Be Fine". Als ob die Knie nicht schon weich genug wären, holt man sich für "Looking For Astronauts" und "Val Jester" auch noch bezaubernde weibliche Vocals ins Boot, die den Songs noch mehr Tiefe und Schönheit verleihen. Herrgott, wem da immer noch keine Träne ins Auge gefahren ist, kann kein Mensch sein.

Immer nur Trübsal blasen ist aber auch nicht. Das wissen auch The National und lassen den Freuden- und Hoffnungsschimmer am Horizont nie ganz verschwinden. "Lit Up" erscheint im Kontext des Albums so als besonders aufmunternder Klaps auf die Schulter und die mehr oder weniger einzige Uptempo- Nummer "Abel" wirkt doppelt so euphorisch. Das man einen Übersong wie "Mr. November" schließlich ans Ende stellt, zeugt von Mut und absoluter Überzeugung der eigenen Sache. Eine Hymne für und an das Leben. Die Unsterblichkeit ist doch nicht so weit entfernt, wie man immer gedacht hatte.

Wahrscheinlich wird auch diesem Album nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die es eigentlich verdient hätte. Vielleicht aber auch besser so, denn das macht "Alligator" zu etwas noch Besondererem: Eine Zuflucht der ganz großen Musik in einer Welt, die fast verlernt hat, was Musik eigentlich ist.

Benjamin Köhler

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