Interview

Frank Turner


Wenn der furchtbar sympathische "Folkbarde" Frank Turner schon einmal an gleich vier Tagen in Hamburg weilt, um Social Distortion zu supporten, wäre es beinahe eine Frechheit, den Engländer nicht zum Gespräch zu laden. Wir taten dies und sprachen über die ganz großen Themen: Nationalidentität, Religion und Atheismus. Ach ja, und Cricket.

Hallo Frank! Wenn man als Engländer so lange quasi pausenlos auf Tour ist wie du, ist es wohl kein Wunder, wenn das neue Album so sehr von englischer Nationalidentität handelt.

Frank Turner: Klar. Wenn du nach Amerika ziehen würdest, würdest du dir wohl auch sehr deutsch vorkommen, einfach weil du nur von Amerikanern umgeben bist. Selbst mein Tourmanager war ja Amerikaner und ich war der einzige Engländer.

Trotzdem scheinen sich insbesondere englische Künstler viel mit ihrer Nationalidentität zu beschäftigen. Ich könnte dir keine deutschen Künstler nennen, für die das ein Thema wäre.

Frank: Ich weiß, was du meinst. Ich glaube, Folkmusik im Allgemeinen ist sehr mit dem Ort verbunden, an dem sie geschrieben wurde. Ich habe es auch immer geliebt, wie Bruce Springsteen von Amerika gesungen hat.

Das mag ein Argument sein. Ernstzunehmende deutsche Folkmusik gibt es eigentlich auch kaum.

Frank: In England verläuft es mehr oder weniger zirkulär: Alle zehn Jahre ändert sich die öffentliche Einstellung – mal ist Folkmusik cool, mal total uncool. Da bin ich manchmal genervt und denke: Hey, entscheidet euch endlich. Niemand hat sich für das interessiert, was ich tue, als ich angefangen habe und wenn jetzt aus Trendgründen mehr Leute kommen, ist das schön, aber wenn sie das nicht mehr tun, ist das auch ok.

Du gehst das Thema "England" unter anderem dadurch an, dass du einen Blick in die Geschichte wagst – "English Curse" handelt von der normannischen Eroberung Englands. Was interessierte dich an dieser Epoche im Speziellen?

Frank: Aus musikalischer Sicht sollte der Song wie ein klassisches Traditional klingen. Es ist lustig: Ich habe ihn auf einem englischen Folkfestival gespielt, und auf solchen Festivals laufen Menschen herum, die das Ganze beinahe akademisch betrachten, sich Notizen machen und so. Sie haben mich dann gefragt: "Wo hast du diesen Song gefunden? In welchem Jahrhundert wurde er geschrieben?" Ich meinte dann nur: "Hey, den hab ich selbst geschrieben". (lacht) Es ist ein Song über Widerstand, und 1066 war ja auch das letzte Mal, dass eine fremde Macht in England einmarschieren konnte. Ich bin aus Wessex im Süden Englands und habe ein Buch mit Sagen über diese Gegend gelesen, da fand ich dann auch diese Geschichte und dachte, dass er sich gut als Song machen würde.

Wenn dich ein unmotivierter Teenager fragen würde, warum er sich für etwas interessieren sollte, das vor 1000 Jahren passiert ist – was würdest du antworten?

Frank: Ich würde sagen, dass Geschichte jeden interessieren sollte – um die Gegenwart zu verstehen, musst du erst einmal die Vergangenheit verstehen. Ich bin da sehr leidenschaftlich. Es fällt mir beispielsweise schwer, Leute zu verstehen, die hier die Reeperbahn entlang laufen und nicht wissen wollen, wann die Straße gebaut wurde, wer sie gebaut hat, wer sonst schon hier gewesen ist...Wie kann das jemanden NICHT interessieren? Aber das geht vielleicht nur mir so (lacht).

Ein anderer klassischer Aspekt: Der Albumtitel "England Keep My Bones" stammt vom Shakespeare-Drama "King John".

Frank: Genau. Es lässt mich vielleicht sehr clever wirken, einen Shakespearetitel zu haben, aber ich habe das Stück nicht einmal gelesen, um ehrlich zu sein. Ein Freund von mir ist Literaturlehrer, der hat es mir vorgeschlagen.

Was mich nun vielleicht noch cleverer wirken lässt: Die komplette Zeile ist ja "Heaven take my soul and England keep my bones". Das steht etwas im Widerspruch zu einigen der sehr atheistischen Gedanken, die du auf dem Album äußerst.

Frank: Ha! Gute Frage. Ich bin Atheist, aber nicht dogmatisch. Ich habe die Bibel gelesen, weiß auch einiges über christliche Symbolik – das geht auch kaum anders, wenn man im westlichen Kulturkreis lebt. Wenn man als Atheist behauptete, dass alles blödsinnig ist, was mit dem Christentum zu tun hat, würde man auch so gut wie jegliche Kunst blödsinnig nennen, die vor dem 20. Jahrhundert entstanden ist. Die King-James-Bibel ist auch ein wunderschönes Buch. Daher habe ich kein Problem damit, christliche Symbolik in meinen Songs zu haben. Außerdem mag ich es auch, dass der Albumtitel so gesehen quasi einen versteckten zweiten Teil mit versteckter Bedeutung hat und die zugrunde liegende Aussage: Wenn ich einmal tot bin, werde ich auf ewig in England sein, auch wenn ich heute in Hamburg und morgen wieder ganz woanders bin.

Eine weitere Anmerkung zum Atheismus-Thema: Der Inhalt des Songs "Glory Hallelujah" ist ja die klassische Religionskritik: Religion lenkt davon ab, sein Leben in vollsten Zügen zu leben und dabei immer den Tod im Auge zu haben, nach dem alles vorbei ist. Andererseits heißt es auf "One Foot Before The Other", dass ein Teil von uns nach dem Tod weiter bestehen wird. Das klingt für mich auch ziemlich spirituell.

Frank: Ja, wahrscheinlich. Das ist vielleicht meine Art von Spiritualität, auch wenn mich nervt, dass viele, die sich selbst spirituell nennen, meistens kompletten Bullshit erzählen. Kennst du Douglas Adams? Er hat eine tolle Geschichte über einen alten Mann geschrieben, der mit seiner Enkelin im Garten steht. Sie sehen einen Kometen und er sagt zu ihr: Wenn der Komet das nächste Mal zu sehen ist, wirst du eine alte Frau sein und mit deiner Enkelin hier stehen. Es geht mir also nicht so sehr um das Leben nach dem Tod, sondern viel mehr um diese Kontinuität, die ich sehr schön finde. Die Welt dreht sich weiter, egal, was mit dir passiert – das kann man als deprimierend sehen, aber ich finde es auch inspirierend.

Um den Bogen zurück zum Thema "englischer Nationalidentität" zu schlagen: Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson sagte über Nationalbewusstsein (und im Speziellen "Englishness"), dass sie als etwas fungiert, auf das das Individuum sein Verlangen nach Zugehörigkeit und "Ganzheit" projizieren kann. So gesehen wäre sie nicht allzu weit von einer Religion entfernt, die ja ähnliche Bedürfnisse befriedigt.

Frank: Sicherlich. Das verstehe ich. Ich fühle mich, weswegen auch immer, in der Tat sehr englisch. Aber ich habe das Problem mit dem Gedanken einer Instanz, die dich nach dem Tod für deine Sünden richtet. Das ist eine ganz andere Art und Weise, die Welt zu betrachten. Aber was für mich Englischsein bedeutet und was es für so gut wie jeden anderen Engländer bedeutet, ist wohl auch sehr unterschiedlich, was aber wohl auch in jedem Land so ist. Es ist mit Punk eigentlich ganz ähnlich: Es wird wohl nie eine Definition des Punk geben, auf die sich alle einigen können, und dennoch hat er mich sehr inspiriert. Ein Freund von mir meinte auch einmal: Nichts ist weniger Punk als bestimmen zu wollen, was Punk bedeutet.

Ein anderer Aspekt: Du meintest, dass du Musik schreiben wolltest, die "englisch klingt". Was bedeutet das denn für dich?

Frank: Was ich damit, glaube ich, meinte: Mich langweilen Bands aus England einfach zu Tode, die mit einem amerikanischen Akzent singen. Das ist einfach unehrlich, dann muss ich oft denken: You're from fucking Sheffield, man. Ich liebe Amerika, aber es hat schon eine sehr dominante Position im Rock 'n Roll. Daher wollte ich keine Platte machen, die klingt, als könnte sie auch in Nashville aufgenommen worden sein.

Ich weiß was du meinst – dabei können sich ja gerade Künstler wie Jamie T und The Streets durch ihren englischen Akzent super von anderen abgrenzen.

Frank: Lustig, dass du die beiden erwähnst. Ich bin ein riesiger Fan von The Streets und kenne Jamie recht gut. Was Jamie und ich tun, ist auch recht ähnlich, aber wir gehen von anderen Seiten heran. Jamie schreibt über ein sehr modernes England, London, Newport Street, während ich über England vor 1000 Jahren schreibe. Gerade Jamies Genre ist ja auch sehr amerikazentriert und trotzdem hört man genau, dass er aus South London kommt, das mag ich so sehr an ihm.

Eine letzte Frage: Da du jetzt wie Stings "Englishman In New York" so viel im Ausland unterwegs warst: Was ist das merkwürdigste Klischee über Engländer, auf das du gestoßen bist?

Frank: Da fällt mir sofort etwas ein: Die Cricketregeln. Ich bin mit Cricket im Fernsehen aufgewachsen und mir kommt es sehr simpel vor. Australier verstehen es ja offensichtlich auch. Amerikaner allerdings fragen sich: Was geht mit diesem Spiel? Ich hatte einmal ein Gespräch mit Casey, meinem amerikanischen Tourmanager. Er meinte dann, dass ich ihm die Regeln ja wohl schnell erklären könnte, wenn sie nicht kompliziert wären. Wir saßen in einem Diner und ich habe dann mit Pfeffer- und Salzstreuern Spielsituationen nachgestellt. Ich dachte, dass ich die Regeln problemlos in drei Minuten erklären könne, aber 45 Minuten später war ich immer noch damit beschäftigt und Casey meinte nur: "Du willst mir also sagen, dass dieses Spiel manchmal über drei Tage gespielt wird und trotzdem niemand gewinnt? Das ist ein verdammt blödes Spiel."

Jan Martens

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