Rezension

The War On Drugs

A Deeper Understanding


Highlights: Pain // Holding On // Strangest Thing // Nothing To Find // Thinking Of A Place
Genre: Rock // Folk
Sounds Like: Bob Dylan // Bruce Springsteen // Neil Young

VÖ: 25.08.2017

Die Einschätzung vor über drei Jahren, mit der Veröffentlichung des Vorgängeralbums „Lost In The Dream“ würde seine Geschichte erst so richtig beginnen, war nicht zu mutig, sie war eher noch untertrieben. Dass für die Hörer*innen die Geschichte erst begann, war relativ klar – aber auch für die Band um Mastermind Adam Granduciel begann sie so richtig, und führte sie auf die größten und renommiertesten Bühnen der westlich geprägten Welt, etwa in die New Yorker Radio City Music Hall. Und es führte sie auch vom Indielabel Secretly Canadian auf das Majorlabel Atlantic Records. Doch die kleine Sorge, nun könnten die Pferde des Erfolgs mit ihm durchgehen, ist sofort beim ersten Hören des neuen Albums „A Deeper Understanding“ zerschlagen. Granduciel kann sich durch die vermehrten Möglichkeiten nur noch mehr seiner Liebe zum Detail und zur Musik hingeben, die sein absoluter Antrieb sind. Dass er damit Erfolg hat, ist ein angenehmer Nebeneffekt, Hauptsache, er kann Musik machen, seine Visionen auf Platte bannen. Und so kommt nun eine neue Geschichte dazu. Oder besser: Adam Granduciel schreibt die seine weiter, und lässt uns daran teilhaben.

Zum Glück für uns alle. Denn was er mit diesen neuen Möglichkeiten macht, und wie er das schier Unmögliche schafft, dem zeitlosen Meisterwerk „Lost In The Dream“ einfach das nächste nachzusetzen, ist wahnwitzig. Dieses Album ist ein einziges Erlebnis – allein die ersten vier Songs als Komplettpaket kippen den Hörenden aus den Latschen. „A Deeper Understanding“ klingt noch breiter und wesentlich ausdifferenzierter als „Lost In The Dream“, vom Gefühl her reicht die Musik stets von Horizont zu Horizont, und das ohne auch nur einmal peinlich, cheesy oder zu groß zu klingen. Jeder Song an sich funktioniert auf den ersten Blick als großartiger Popsong, doch beim Blick ins Detail offenbaren sich Welten. Was hier alles für Geräusche miteinander vereint sind, alle klar ausdifferenziert erkennbar, ist Wahnsinn. Es überfordert teilweise richtig, wie kreativ die Musik ist, wie spielfreudig, und doch gleichzeitig ausgewogen und fokussiert. Über jeden Song ließe sich ein eigener Text schreiben.

Doch nehmen wir etwa „Pain“, den zweiten Song der Platte. Wie hier Bass und Gitarren verspielt ineinander verwoben sind, Rhodes und Synthieflächen mit reinspielen, wirkt auf den ersten Blick so simpel, ist aber das Ergebnis unglaublich langer Detailarbeit. Hier sitzt jeder Snareschlag genau so, wie Granduciel es möchte, jeder kurze Saxophonton da, wo er hingehört. An der Platte fällt besonders auf, wie der Bass im Vergleich zu den Vorgängeralben viel präsenter ist und viel knackiger produziert, wie Granduciels Stimme viel mehr im Mittelpunkt des Raumes steht und viel klarer ist, und wie das Klavier mehr Raum bekommt. Das ist an „Pain“ exemplarisch zu bemerken, ebenso genau aber am folgenden, großartigen „Holding On“, das beispielhaft für die hohe Kunst Granduciels Songwritings ist: Wie hier das Zusammenspiel von Klavier, Gesang und dazu perfekt gesetzter Slidegitarre aus einem sehr guten Song einen zeitlosen macht, ist unvergleichlich.

Überhaupt ist das hier mittlerweile unvergleichlich: Die Einflüsse und Dylan-, Springsteen- oder Neil-Young-Anleihen sind offensichtlich, doch Granduciel macht dennoch einen eigenen Sound daraus, etwa dadurch, dass das Schlagzeug viel stoischer und treibender ist als bei den musikalischen Vorbildern. Und durch den anderen Songwriting-Ansatz: Bei Granduciel steht am Anfang das Geräusch. Eigentlich liebt er es am meisten, perfekt klingende Geräusche zu finden – das Ergebnis ist dann eben ein Song. Er fängt nicht an, Songs mit Gitarre und Text zu schreiben, sondern am Anfang sind die Geräusche, dann die Soundflächen, und dann kommt erst der Teil der klaren Melodielinien und des Textes. Granduciels Haupt-Songwriting-Instrument ist auch nicht die Gitarre – es ist das Klavier. Das ist hier sehr häufig zu spüren, etwa bei „Holding On“, gerade aber auch zum Ende der Platte hin.

Das flächenartige Songwriting führt dazu, dass letztlich hinter den vordergründigen Sounds eigentlich jeden Songs ein Ambienttrack für sich steht. Besonders auffällig ist das bei dem vorab veröffentlichten, über elf Minuten langen, unfassbar detailreichen „Thinking Of A Place“. Hier zeigt sich auch noch ein typisches Element: Granduciel verschwendet und überreizt die großen Momente nicht. Die unvergessliche Hook des Songs kommt genau einmal nach sechseinhalb Minuten. Wiederholt sich ein Part auf der Platte einmal, dann immer mit anderer Variation, anders mit Synthieflächen untermalt, mit einem leicht veränderten Schlagzeug, und so weiter.

Kernpunkt der Platte und Highlight unter Highlights ist das unvergessliche, episch ausufernde „Strangest Thing“. Hier wird auch der textliche Fokus der Platte klar: Tiefe Identitätsfragen, Fragen des Immer-Weitermachens, verknüpft mit dem Bezug auf andere Menschen – der Liebe zu anderen. Granduciel fragt: „Am I just living in the space between // the beauty and the pain // and the real thing“, und erkennt, dass das Leben immer ein Dazwischen ist, ein ewiges Abwägen, eine ewige Ambivalenz. Seine Erzählweise ist dabei stets persönlich, aber nicht persönlich über ihn. Dadurch fühlt man sich als Hörer*in von ihm verstanden und aufgehoben. Diese Art, Geschichten zu erzählen, führt letztlich eben dazu, dass mit seiner Geschichte auch die unsrige weitergeht, und genau deshalb ist Granduciel mit diesem Album nun endgültig einer der Songwriter unserer Zeit, die in Erinnerung bleiben werden. Wie Granduciel dies etwa auf „Strangest Thing“ mit Musik untermalt, die in unendlichen Weiten stets um seine Worte mäandert, kann nur dazu führen, dass im epischsten Moment des Songs Granduciel selbst sich auch einmal kurz rauslehnt, den Song von außen betrachtet, sieht, wie das Saxophon genau einen Ton unter all das drunterschiebt, genau zum richtigen Zeitpunkt eben, und ein riesiges „Woooooohooooo“ über all das drüberjauchzt (ca. bei 5:05).

Ein einziges „Woohooo“ ist auch die großartige Springsteen-Hommage „Nothing To Find“ – einmal mehr unglaublich, wie kreativ-verspielt dieser Song ist, voller Mundharmonikateile, einem großartig verspielten Gitarrensolo im Mittelteil, das von glitzernden Synthies überlagert wird. Letztlich führt eine simple wie markante Orgelmelodie aus dem Song heraus. Zum Ende hin dann wird das Album etwas ruhiger und gerade das finale „You Don’t Have To Go“ fühlt sich wie ein Ausatmen an. Dieses vermeintliche Abflachen ist aber nötig, um nach dem Album wieder heraus aus dessen Geschichte gelassen zu werden, und nicht viel zu sehr von all der Großartigkeit überfordert zu sein. Es ist die Flaute, die zum Sturm dazugehört. Granduciel beherrscht die Kunst des Durchkomponierens einer Platte, dazu gehört etwa auch, wie er sich mit dem Opener "Up All Night" in die Platte hereinschwurbelt.

Granduciel erschafft mit der neuen Platte einmal mehr einen Moment der völligen Zeitlosigkeit – beim Zuhören verliert man völlig den Zeitbezug. Kaum ein Song dauert weniger als sechs Minuten, kaum ein Song fühlt sich länger an als drei. Das sind die großartigsten Momente des Lebens, und es ist schön, wenn Kunst solche Momente zu geben vermag – sie sind ein Geschenk. Granduciel gibt seiner Musik so viel Raum zur Entfaltung, es ist eine Wonne. Welche Instrumente er benutzt, wie er sie benutzt, wie er sie aufnimmt, wie das alles klingt, was er dazu singt, einfach alles hier ist mindestens richtig gut. Das hier ist „A Deeper Understanding“. Es ist der Soundtrack zum Immer-in-Bewegung-Sein, in innerer und äußerer. Zur Rastlosigkeit und zum Gedanken-immer-Weiterspinnen. Der Soundtrack dazu, wie schon "Lost In The Dream", die eigene Geschichte immer weiterzuspinnen und niemals aufzuhören, das eigene Leben zu leben, mit allem, was es auch bringen mag.

Daniel Waldhuber

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