Rezension
The Dresden Dolls
No, Virginia
Highlights: The Kill // Pretty In Pink // Dear Jenny // Boston
Genre: Cabaret-Punk
Sounds Like: Marlene Dietrich // Kurt Weill // Nick Cave // Lydia Lunch
VÖ: 16.05.2008
Knaack Club, Berlin. September 2004. Zufällig war ich zu einem Konzert der damals völlig unbekannten Dresden Dolls gegangen. Gefühlte 300 Leute in einem Club, in dem maximal die Hälfte davon Platz hätte. Auf der Bühne zwei Kreideweiße Gestalten, Klavier und Schlagzeug, Brian Viglione mit beachtlicher Narbe am Hals (man hatte sich mit Regenschirmen geschlagen) und Amanda Palmer, eine Mischung aus Nymphe, Nixe und Hydra. Zwischendurch wird geflucht, geredet und natürlich Musik gespielt. Die Mischung der Dresden Dolls – Punk, Cabaret, Theater, orientiert am Berlin der zwanziger Jahre – hatte man so noch nicht gesehen. Ein Jahr später füllen die Dresden Dolls die Columbiahalle als Supportband der Nine Inch Nails. Ein weiteres Jahr später sind sie so groß, dass sie dafür nicht mehr Vorband sein müssen.
Das zweite Album „Yes, Virginia“ sorgte für den endgültigen Durchbruch und bei den Aufnahmen dazu sind so viele Stücke entstanden, dass man damit locker ein zweites füllen könnte. Genau das hat das Duo jetzt getan, „No, Virginia“ umfasst neben einem Cover und einigen Neuaufnahmen viele dieser damals liegen gebliebenen Songs. Bei so etwas kommt natürlich die Frage auf: B-Seiten-Sammlung oder vollwertiges Album? Die Antwort fällt nicht leicht, ein wenig von beidem vielleicht.
„Dear Jenny“ macht einem den Zugang zunächst sehr einfach. So eingängig klangen die beiden Bostoner bisher nicht, statt abgehaktem Schlagzeugspiel und sprunghaftem Klavier hat man es hier mit einer stetigen Melodie zu tun. „Night Reconaissance“ klingt dann schon wieder wie ein „typischer“ Dresden-Dolls-Titel und genau da ist das Problem. Wie lange kann diese Band noch ziemlich ähnliche Alben veröffentlichen, ohne als Selbstkopie mit Stillstand (wenngleich auch auf hohem Niveau) gehandelt zu werden? Angesichts der Tatsache, dass „No, Virginia“ das Ende einer Schaffensperiode darstellt und schon an einigen Stellen hörbar ist, wo die Band hingehen könnte, besteht einige Hoffnung und Zuversicht, dass den beiden das „Korn-Syndrom“ wohl erspart bleibt.
Genug der Skepsis. Erfreuen wir uns lieber daran, dass insbesondere Amanda Palmers Gesang wieder einmal über einigem erhaben ist. Als musikmachende Verkörperung einer Charlotte Roche schwankt sie stimmlich zwischen vulgär, lasziv, verrucht, sanft, bestimmt und ist dabei vor allem eines: ausdrucksstark. Wunderbare Balladen wie „The Sheep Song“ gehen ihr ebenso leicht von der Stimme wie schräge Songs a la „Ultima Esperanza". A Propos Schrägheit: Besonders betrachten sollte man auf dieser Platte das Cover der Psychodelic Fours „Pretty in Pink“, welches mit Ziehharmonika für einige Schunkelstimmung sorgt. Bleibt noch ein Wort zu den Texten dieser Platte. Auch dort findet man die typische Dresden-Dolls-Mischung, durchgeknallter Humor trifft auf morbide Bilder und obszöne Liebeserklärungen. Allein der Titel „Lonesome Organist Rapes Page-Turner“ so ziemlich all diese Merkmale gut wider.
Gibt es den Weihnachtsmann?, lautete 1897 die Frage eines kleines Mädchens in einem Brief. Die Zeitung „New York Sun“ antwortete damals: „Yes, Virginia“, ebenso wie die Dresden Dolls 2006. Zwei Jahre später ist der Weihnachtsmann tot. Das Mädchen wird es zum Glück nie erfahren, denn solche Alben werden wohl kleinen Kindern nicht in die Hände gegeben werden.
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