Rezension

Nils Frahm

All Melody


Highlights: Sunson // My Friend The Forest // Human Range // All Melody // Fundamental Values
Genre: Elektronik // Klassik // Ambient // Dub // Avantgarde
Sounds Like: Boards Of Canada // Radiohead // Olafur Arnalds // Rival Consoles // Nils Frahm

VÖ: 26.01.2018

„All Melody“, das neue und langerwartete Studioalbum von Nils Frahm, ist letztlich pur und simpel: Musik. Das sagt bereits der Titel, der nicht treffender sein könnte. Viel mehr ist es aber die musikalische Umsetzung einer Vision, einer Welt. Die Schaffung eines Geräuschraumes, in dem alle Melodien, alle Klänge möglich scheinen. Robert Raths, der Gründer des Frahm beheimatenden Labels Erased Tapes, sagte, dass bestimmte herausstechende Künstler*innen auf einer „Entdeckungsreise des Sounds“ waren. Sie „vermissten“ etwas, fanden es nirgendwo – also machten sie es selbst. Um Beispiele über die Jahrzehnte zu geben: Miles Davis machte das mit „Bitches Brew“, Pink Floyd machten das etwa auf „Dark Side Of The Moon“, Radiohead taten es etwa mit „Kid A“. Nils Frahm macht es nun mit „All Melody“ und ist nun wohl endgültig einer der herausstechenden Musiker und gleichermaßen Produzenten – hier letztlich dasselbe – unserer Zeit. Weil er etwas schafft, das so mit nichts vergleichbar ist, und das es so noch nicht gab. Ein Album wie ein Ozean der Geräusche zwischen Elektronik und klassischer Musik, mal lauter und explizit tanzbar, mal äußerst intim und still, das in seiner Grundidee und Vision ohne jegliche Worte mehr sagt, als es oft viele Worte vermögen.

Um das zu erschaffen, hat Frahm sich erst mal einen Ort geschaffen, der das so möglich macht. Dieser Ort ist das Funkhaus Berlin, ein Gebäudekomplex Richtung Stadtrand an der Spree, der lange Zeit vergessen war. In der DDR waren dies die staatlichen Rundfunkstudios, in akribischer Perfektion nur für den bestmöglichen Klang gebaut, in denen in Sälen verschiedener Größe Orchester und einzelne Musiker*innen für das Radio aufgenommen wurden. Ein sehr besonderer Ort, der lange nur nostalgisch war, nun aber neue Geschichten schreibt. Eines der Studios dort gehört seit zwei Jahren Nils Frahm, und das erste dieser Jahre hat er ausschließlich damit verbracht, es von Grund auf nach seinen Bedürfnissen zum bestmöglichen Aufnahmeraum zu machen. Jedes Kabel hatte er nach eigener Aussage in der Hand, um einen Raum zu schaffen, der ausschließlich dem Klang gewidmet ist. Es gab im Funkhaus-Komplex sogar sogenannte Echokammern in verschiedener Größe, um einen organischen Echoklang ohne Effekte zu erreichen. Eine wahre Schatztruhe für einen Klangnerd wie Nils Frahm, und einige dieser Schätze hat er ausgegraben.

Die Beschreibung des Raumes und Prozesses, in dem die Musik entstand, ist essentiell für das Verständnis dessen, warum diese Musik so besonders ist. Denn der Raum ist wahrscheinlich das wichtigste Instrument auf dieser Platte. Er ist beim Hören förmlich spürbar. Und Raum im Sinne von der Musik Raum zum Entstehen zu geben, spielt hier eine große Rolle. Mehr Demut vor der Musik, als ihr einen eigenen perfekten Raum zu kreieren, sich dem so tief und lange zu widmen, geht kaum. Obwohl die Musik keine Worte beinhaltet, ist doch die Haltung, die dahinter steht, eine Besondere: In einer Zeit des Mehr, Schneller, Lauter, Besser entzieht sich Frahm dem Kreislauf bewusst und schafft etwas, dem er genau die Zeit zugesteht, die es benötigt, und entzieht sich so jeglichen Marktmechanismen. Ein großer Slow Down als Platte. Er schafft den perfekten Rahmen für ein Werk, das, wie der Titel schon sagt, einfach nur Platz für Musik hat, und für sonst nichts. Dementsprechend auch der Titel „All Melody“, im Vergleich zu etwa „Felt“, dessen Thema es war, durch Abdumpfen der Pianoseiten die Nachbar*innen nicht zu stören, oder „Screws“, welches aufgrund eines gebrochenen Daumens nur mit neun Fingern gespielt wurde. Hier ist das Thema einfach nur Musik. Frahm selbst ist im Prinzip nur das Medium, welches die Musik umsetzt, nimmt sich selbst völlig in Demut vor der Musik zurück. Er (eigene Aussage) „ändert sie, bis er einen Punkt gefunden hat, wo sie sich vertraut anfühlt, aber auch nach nichts Anderem klingt.“

Die Musik: Als das Studio letztlich vollendet war, war der Rest laut Frahm „pure Freude und Leidenschaft“. Mitunter tagelang verbrachte Frahm Zeit im Funkhaus, schlief im Kontrollraum des Studios, nur er selbst und die Musik. Sie bewegt sich irgendwo zwischen Elektronik und Klassik, letztlich ist das aber egal, Genrebezeichnungen machen wenig Sinn, wo etwas völlig Neues entsteht. „All Melody“ zu hören ist irgendwie überfordernd, weil es viel zu gut, viel zu schön und viel zu beeindruckend ist, gleichermaßen genauso gar nicht überfordernd. Denn die Platte ist bis ins letzte Detail ausgewogen, bietet jedem der Geräusche den Raum, die es braucht. „The Whole Universe Wants To Be Touched“ zieht uns in den Bann dieser Platte, dem wir uns nicht entziehen können. Chöre und tiefe Orgeln umgarnen uns mystisch, langsam schichten sich neue Ebenen hinzu, geht das Eröffnungsstück fließend in „Sunson“ über, das sich irgendwann behutsam zu einem Beat erhebt, der unmöglich stillsitzen lässt. Nach dem gänsehautlastigen Beginn ein erster Moment der Euphorie.

„All Melody“ entfaltet sich vollkommen auf einer guten Stereoanlage, sein Raumklang ist einfach nur beeindruckend. Überall passiert etwas, sternenklar voneinander unterscheidbar. Und vor allen Dingen ist der Raum, in dem aufgenommen wurde, durch eben jenen Raumklang stets präsent. So wirken die vielen Ebenen organisch ineinander und niemals überladen. Alles bekommt seine Zeit und seinen Raum. Auch als Gesamtalbum ist „All Melody“ perfekt durchkonzipiert. So ist etwa programmatisch für die Platte, wie „Sunson“ nach seinem unglaublichen Einstieg in das Album endet: mit zwei Minuten ambientartiger Stille. Das Stück bekommt Raum, auszuatmen. Ebenso wird 74 Minuten später die Platte ausatmen, wenn nach der tief schönen „Harm Hymn“ ein Moment der Stille folgt, mit dem Frahm sich vor eben jener als Teil seiner Musik verneigt.

Stille und Räume auch als Musik zu denken, ist äußerst klug, denn hier bieten sich den Hörenden füllbare Lücken. Anhand der wunderschönen Pianoballade „My Friend The Forest“ wird das besonders deutlich. Was Frahm hier spielt, ist genau so wichtig, wie was er weglässt. In keiner Weise drängt dieser Song sich auf, der Raum, etwa das Klackern der Pianopedale, ist genauso laut wie das Piano wahrnehmbar. So wirkt die Ballade wie von ganz fern, aus einer eigenen Welt, aber doch ganz unmittelbar. Hier wird auch die Bedeutung der Aufnahmetechnik klar, die haargenau selben Noten im Kontext etwa des Albums „Felt“ hätten ein weniger tiefgehend resonierendes Stück ergeben. Letztlich ist es doch das, was Frahm durch all die Hingabe und spürbare Leidenschaft schafft: Eine unglaubliche Resonanz in den Hörenden. Der Raum, den er schafft, weitet sich durch uns aus. Wir tragen die Musik in uns weiter und können uns in ihren Räumen entfalten.

Und so behandelt die Platte große Themen, ohne sie explizit zu benennen, lediglich die Titel weisen darauf hin. „Human Range“, ein außergewöhnliches Stück, das durch den Raumklang real eine Spannweite öffnet, ein dub-artiger Beat, mystische, auf- und abebbende Chöre, zusammengehalten von einem siebenminütigen Trompetensolo. Hierzu hat Frahm dem Künstler Robert Koch jeglichen Freiraum gegeben, und ihm nicht seine Vorstellungen aufgedrängt, weil er sicher ist, dass dieser dann mehr mit dem Herzen spielen kann. Letztlich musste er das Solo so kein Stück nachbearbeiten, es war auf Anhieb genau richtig. Eben: Räume bieten die Möglichkeit zur freien Entfaltung.

Überhaupt, wie hier die Instrumente miteinander kombiniert sind: Blasinstrumente, Klavier, Orgeln, Synthesizer, Chöre, alles ist da und greift kreativ und mitunter sogar vermeintlich kontraintuitiv ineinander. Da wird etwa im Titeltrack „All Melody“ die Orgel als Percussion-Instrument verwendet, alles ist hier genau ausgefuchst, nichts standardmäßig gegeben, aber so konzentriert umgesetzt, dass es beim Zuhören wieder schlüssig und unverkopft und somit zwar beeindruckend, aber nie überfordernd wirkt. Durch das schlüssige Ineinandergreifen der Ebenen gibt es auch nie völlig überraschende Ausbrüche, viel mehr eine Grundspannung, den Bann der Platte, die konstant hoch ist. Ausbrüche sind hier nicht nötig, diese Platte ist ein einziges Vibrieren in den Hörer*innen, die sich aktiv darauf einlassen. „All Melody“ ist keine Platte für den Hintergrund, so wie ihr Schaffenskonzept einfach nur Musik ist, so verlangt dies auch der Hörprozess. Viele Details und Großartigkeiten erschließen sich sonst nicht in vollem Maße, „All Melody“ kann sich nur bei voller Aufmerksamkeit zu voller Resonanz entfalten, am Besten auf der besten Anlage in der Nähe, nicht auf Kopfhörern, je mehr die Musik im Raum steht, desto besser.

Desto schöner etwa die andächtige Fanfare, mit der das tief bewegende „Fundamental Values“ beginnt, um uns dann mit simplen Klavierakkorden auf leisen Streicherflächen hinfortzutragen. Dieses Stück wirkt zu schön, um wirklich aus dieser Welt zu sein. Über jedes Stück ließe sich ein eigener Text schreiben, aber letztlich steckt alles in der Musik. Es ist schlicht großartig, wie Nils Frahm über die Jahre seine Idee von Musik immer breiter hat werden lassen, seine Veröffentlichungen immer näher seiner Vision und Idee des Musikmachens entsprechen. Zumindest live, wo er, auf nochmal andere Art und Weise beeindruckend, das alles irgendwie (niemand außer er weiß, wie) alleine gleichzeitig erschafft, ist viel mehr auf einmal nicht mehr möglich. Das gilt es nun zu bewundern, wenn Nils Frahm „All Melody“ in den nächsten zwei Jahren in die Konzertsäle dieser Welt trägt. Hier wird es einen Künstler zu sehen geben, der sich auf dem absoluten Höhepunkt seines ganz eigenen Schaffens befindet. Ein Ende des Höhepunktes ist nicht in Sicht. Denn mit „All Melody“ und der darum erschaffenen, eigenen musikalischen und realen Welt (dem Studio) begibt sich Nils Frahm endgültig in eine neue, ganz eigene Sphäre.

Und nun genug der Worte zu „All Melody“. Der Rest ist Musik.

Daniel Waldhuber

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Trailer zum Album
Spannendes Video-Interview des Crack Magazine zur Platte mit Liveeindrücken

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