Rezension

Tocotronic

Pure Vernunft Darf Niemals Siegen


Highlights:
Genre: Indie-Rock
Sounds Like: Kante // Die Sterne // The Fall

VÖ: 17.01.2005

Ein neues Tocotronic-Album! Die Neuigkeit nahm der Rezensent mit heller Freude auf. Jetzt ist es da, und es steht fest: es ist gut so, dass es so ist. Von einem Gedanken musste man aber direkt Abschied nehmen – mit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ ist es sehr schwer geworden, die Songs der Indie-Rock-Helden aus Hamburg einfach mal so auf der Gitarre nachzuspielen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der vielbesungene Tourkeyboarder und -gitarrist Rick McPhail jetzt ein vollwertiges Bandmitglied ist. Somit erfährt Tocotronic eine neue Dimension in ihrer Musik, die jetzt mit zwei Gitarren mehr denn je Komplexität und Tiefe ausstrahlt. Wer es bisher noch nicht gemerkt hat, sollt es spätestens jetzt mitbekommen haben: die Zeiten des sympathischen Dillettantismus sind endgültig vorbei.

Von einem anderen Gedanken nahm der Rezensent auch sehr schnell Abschied: das neue Album auf Anhieb gutfinden zu können. Der Opener „Aber hier leben, nein danke“ braucht unglaublich lange, bis er sich in seiner wahren Größe zeigt und wie eine Bombe in den Gehörgängen des gemeinen Indie-Fans einschlägt. Ein offensichtlicher Höhepunkt dagegen ist das Titelstück. „Pure Vernunft darf niemals siegen“, erklärt uns Dirk erst mit leiser, dann mit immer lauter werdender Stimme. Im Walzertakt wiegt sich der Song in die Höhe, um nach 4 Minuten in einem euphorischen Finale zu enden – „Wir sind so leicht, dass wir fliegen.“

Tocotronic sind wieder da – und sie klingen rauer als zuvor. Nur neun Tage dauerten die Aufnahmen zum neuen Album. Im Mamasweed-Studio in Berlin spielte Tocotronic das Album aufs Band, und das - entgegen den Gepflogenheiten vorheriger Aufnahmen - live. Dabei ließ sich die Band laut eigener Aussage vom Produzenten Moses Schneider ein wenig austricksen – eigentlich war man nur ins Studio gegangen, um Aufnahmen für Demo-Material zu machen. Die Ergebnisse waren dann allerdings so beeindruckend, dass man gleich ein ganzes Album daraus schuf.

Nicht nur musikalisch ist Tocotronic komplexer geworden, auch das Songwriting hat sich entwickelt: was auf „K.O.O.K“. anfing und mit „Tocotronic“ weitergeführt wurde, kommt nun auf ein neues Niveau. Dirk von Lowtzow sagt über die Texte, die Grundidee sei, „das Unbeschreibliche zu beschreiben“. Im letzten (besten?) Song der Platte, „Ich habe Stimmen gehört“, heißt es: „Ich habe die Schwelle gekreuzt / In die Unendlichkeit / Der Weg war weit / Ich war wie Treibholz der Zeit“

Tocotronic sind zurück – mit einem Album, das vor allem der Band selbst gefällt. „Pure Vernunft darf niemals siegen“ ist die Fortführung einer Entwicklung, die vor Jahren notwendig war, um Tocotronic nicht in der Belanglosigkeit von wiederholten Plakativitäten versinken zu lassen. Logisch ist da nur, dass es jetzt tiefsinnig zugeht. Die neue Tocotronic ist ein kleines Meisterwerk, die unzugänglicher als jede Platte vorher den Hörer in ihren Bann zieht. An das Meisterwerk für die Ewigkeit "Tocotronic" reicht sie jedoch nicht heran. Muss sie auch gar nicht. Eine neue Tocotronic. Gut, dass es so ist.

Benjamin Weber

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