Rezension

Tocotronic

Schall Und Wahn


Highlights: Schall & Wahn // Stürmt Das Schloss // Mach Es Nicht Selbst // Eure Liebe Tötet Mich // EIn Leiser Hauch von Terror
Genre: (Indie-)Rock
Sounds Like: Blumfeld // Ja, Panik // Phantom/Ghost

VÖ: 22.01.2010

Das Popjahr – zumal das deutsche – 2010 beginnt vielversprechend. Dieser Umstand ist nicht zuletzt der Veröffentlichung des nunmehr neunten Tocotronic-Albums geschuldet. Die Hamburger schließen mit 'Schall & Wahn' ihre im nachhinein als solche kategorisierte Berlin-Trilogie ab, die zuvor mit 'Pure Vernunft Darf Niemals Siegen' ihren Anfang nahm und 2007 mit 'Kapitulation' fortgeführt wurde. Die Gemeinsamkeiten dieser Platten sind zahlreich. Die wichtigste scheint jedoch die endgültige Abkehr von der Joggingjacken- und Federmäppchenslogan-Phase, die zeitlich gesehen zwar schon lange abgeschlossen war, in den Köpfen der Fans jedoch mehr als präsent.

Erst die Märchen-Lyrik auf 'Pure Vernunft...' machte klar, dass es das war mit „Digital ist besser“ und „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Was folgte, war eine Kunstsprache, die – gespickt mit prägnanten Begriffen – ein Open-Source-Prinzip entwickelte, an der jeder partizipieren und für sich nach Belieben aufladen kann. In dieser Tradition steht auch wieder 'Schall & Wahn'.

Zwar sind Songs wie die erste Singleauskopplung „Mach Es Nicht Selbst“ und das rabiate „Stürmt Das Schloss“, das mit ekstatischen SDS-Proklamationen daherkommt, durchaus mit politischem Inhalt verknüpfbar, doch von Lowtzow selbst sieht die Interpretation nicht als einzig sinnvollen Umgang mit Texten an, erst recht dann nicht, wenn er selbst seine eigenen Texte reflektieren muss. So bleibt es dabei, dass die entwickelte Tocotronic-Sprache Freiräume liefert. Die Titel könnten für sich sprechen, beinhalten sie doch so prägnante Schlagworte wie 'Terror', 'Folter', 'Blut' und 'Tyrann'.

Musikalisch dürfte 'Schall & Wahn' wieder eine Enttäuschung für diejenigen sein, die mit dem ruhigen 'Pure Vernunft...' nichts anfangen konnten und nach 'Kapitulation' auf eine Rückkehr zum musikalischen Ursprung hofften. Songs wie die epischen „Eure Liebe Tötet Mich“ (Intro) und „Gift“ (Outro), die problemlos auch auf der ersten Platte der Trilogie hätten erscheinen können, verbinden sich mit dem vergleichsweise experimentellen „Stürmt Das Schloss“ und dem schrammeligen „Gesang des Tyrannen“ zu einem Sound, der besser diese Trilogie nicht hätte abschließen können, verbindet er doch Klangelemente der beiden Vorgängeralben.

Die Kritik an Tocotronic, die gerade auch durch von Lowtzows Unwillen befeuert wird, seine eigenen Songs zu erklären, dürfte auch nach 'Schall & Wahn' nicht geringer werden. Klar ist, dass, wo immer in der Kunst Erklärungsbedarf besteht, schnell der Eindruck entsteht, es gehe hier um bloße Hülsen, wenn der nicht erfüllt wird. Und dass Tocotronic ohne das Verständnis beziehungsweise eher den subjektiven Umgang mit ihren Texten auf rein musikalischer Ebene nicht funktionieren können, darf auch klar sein.

Für den Autor dieser Zeilen bleiben die letzten überbliebenen Popintelektuellen in der Popmusik (neben Neuankömmlingen wie Ja, Panik) mit das Beste, was deutschsprachiger Pop zu bieten hat. (Und ihm ist bewusst, dass er diesen Satz, wenn auch etwas paraphrasiert, bereits im Jahresrückblick 2009 auf ebenjene Ja, Panik angewandt hat.)

Andreas Peters

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