Rezension

Marissa Nadler

Little Hells


Highlights: Mary Come Alive // Ghosts And Lovers // River Of Dirt // The Hole Is Wide
Genre: Folk
Sounds Like: Beth Gibbons // Alela Diane // Joanna Newsom // Cat Power

VÖ: 27.02.2009

Auf den ersten Blick, das erste Hören, erscheint nicht plausibel, wieso manch einer das Ende des so genannten Folk-Revivals beschwört. Bei näherer Betrachtung der direkt oder indirekt gemeinten Veröffentlichungen fällt jedoch tatsächlich eine eher geringe stilistische und klangliche Varianz im Werk einzelner Künstler und unter den genrespezifischen Werken auf. Selbstverständlich reduziert dies den Reiz jedes einzelnen Albums kaum. Ebensowenig stört es, wenn Marissa Nadler auf „Little Hells“ prinzipiell – natürlich – dort weitermacht, wo sie mit „Song III: Bird On The Water“ aufhörte. So bleibt sie sich und dem Genre verhaftet. In Erweiterung ihres Songwriting-Ansatzes auf „Song III“ fügt sie auf „Little Hells“ jedoch den Arrangements zusätzliche Schichten hinzu, fließt ihr eiskalter, sanfter Gesang über eine Instrumentierung, die den Folk hin zu den Sphären von TripHop und Shoegazing erweitert. Tatsächlich erscheinen als erste Referenzen nicht mehr Cat Power und Joanna Newsom sondern vielmehr drängt sich Beth Gibbons von Portishead und ihr Solo-Album als stärkster Bezugspunkt auf. Dazu tragen vor allem die Programmierung von Produzent Chris Coady (Cat Power, TV On The Radio, Grizzly Bear) und Dave Schers gelegentlicher Synthesizer-Einsatz bei.

Dennoch bezaubern die zehn Stücke vor allem in ihrem zarten, nahezu zerbrechlichen Folk-Charakter. Sie überzeugen also besonders in den Bestandteilen, die Manchem als zu wenig vielfältig erscheinen mögen. In der Tat heben die Stücke sich vordergründig nur wenig von denen des Vorgänger-Albums ab. Immer noch brilliert Marissa Nadler als – vereinfachend formuliert – sprödere Schwester Anna Ternheims oder zugänglichere Tocher Tori Amos’.

Allerdings ist zugänglich im Bezug auf „Little Hells“ ein äußerst „verhältnismäßiger“ Begriff. Schon die Stücke auf „Song III“ verströmten eine unbeschreibliche musikalische Kälte, die jedoch in ihrer melancholischen Intensität den Hörer sofort wie ein Mantel einkleidete, so dass der von der Kälte ausgelöste Schmerz kaum spürbar wurde. Auf „Little Hells“ nun fehlen diese wärmenden Momente vordergründig, sie erschließen sich nicht direkt. Vielmehr fühlt der Hörer sich zumeist, als stände er unbekleidet in einem Eissturm. Der Schmerz der Lieder trifft ihn unmittelbar und vollkommen ungeschützt. Ihre den Hörer bewahrenden Bestandteile offenbaren die Stücke, so sie diese denn besitzen wie „Mary Come Alive“, „Ghosts And Lovers“ oder „The Hole Is Wide“, erst nach einer intensiven Auseinandersetzung. Nur selten erschließen sich Stücke so einfach, wie das bereits im Dezember 2008 veröffentlichte „River of Dirt“. Es fehlen zunächst die Lieder, die „Song III“ so unbeschreiblich machten. Es findet sich weder ein „Silvia“ noch ein „Rachel“ noch eine solch überzeugende Coverversion wie „Famous Blue Raincoat“.

Sich in diesen letzten Wintertagen der spröden, abwehrenden Eisigkeit von „Little Hells“ auszusetzen, kostet Überwindung. Allein das eröffnende „Heart Paper Lover“ taucht das Herz des Hörers in flüssigen Stickstoff; das Vibrieren des Theramins fügt emotionale Schmerzen zu. Scheinbar wärmend zerschlägt in „Mary Come Alive“ ein Drumcomputer das gefrorene Herz und lässt den Hörer in Trümmern. Wohlfühlen kann sich niemand im Labyrinth dieser vergletscherten Gefühlsschluchten. Auch zu Beginn von „Ghosts And Lovers“ suggeriert Nadlers Fingerpicking auf der Gitarre zunächst wieder musikalisches Wohlwollen – wie alle Höhepunkte dieses Albums jene Lieder sind, die den Hörer über ihren eigentlichen Charakter zunächst im Unklaren lassen. Danach versinken wir jedoch erneut in der Tragik ihrer Stimme, ihrer Texte, ihrer Musik.

Kein Stück auf „Little Hells“ verstört allerdings so sehr wie „The Hole Is Wide“. Als Fortsetzung von „Silvia“ schwebt Nadlers hauchzarter Gesang über einem kaum variierenden Klavier-Zweiklang. Monoton fesselnd erschafft sie hier dem Titel entsprechend ein riesiges Seelenloch, in das hinein der Hörer fällt und sich durch eine langsame Eskalation der Melodie hinab in die Hölle begibt. Dagegen ist „River Of Dirt“ pure Erholung. So ist es eine Herausforderung, die Auseinandersetzung mit diesem Album aufzunehmen. Es lieben zu lernen, kann in psychischen Schmerzen enden.

Oliver Bothe

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