Rezension

Jonsi

Go


Highlights: Boy Lilikoi // Animal Arithmetic // Kolnidur // Grow Till Tall
Genre: Pop // Ambient
Sounds Like: Sigur Rós // Animal Collective // Múm

VÖ: 02.04.2010

Wer ist nicht manchmal noch gerne Kind und träumt von Hüpfburgen oder raumgroßen Bädern voll mit kunterbunten Plastikbällchen, durch die man schwimmen, tauchen, rollen und vor Freude prusten kann? Ich rege hiermit ein Gedankenexperiment an: Man stelle sich vor, man sei auf einer Hüpfburg voller Plastikbällchen. Diese schwimmt auf einer warmen Geysirquelle in Island. Irgendwo im Nirgendwo. Dort verbringt man ein Jahr, die Jahreszeiten ziehen voran, im Herbst wird es melancholisch, Blätter umwehen das in der Hüpfburg bis über den Winter liegende, den Himmel beobachtende Selbst, Stürme ziehen auf. Dann kommt der Frühling, alles wird grün, und im Sommer wird ab und zu Konfetti verschossen, um dann auf Nasenspitzen zu regnen. Auch wenn es dunkle Witterungen gibt, ist es das Jahr über wegen des Geysirs immer wohlig warm, man fühlt sich gut aufgehoben. Eine schöne Vorstellung? Stattdessen könnte man sich auch einfach Jónsis "Go" anhören.

Es ist wohl müßig zu erwähnen, dass hinter Jónsi Jón Þór Birgisson steckt, Sänger der isländischen Musikmagier Sigur Rós. Dieser hat im Sommer 2009 in Zusammenarbeit mit Nico Muhly, verantwortlich für einige Arrangements, und in Co-Produktion seines Freundes Alex Somers und Peter Katis in Reykjavik und Connecticut "Go" gezaubert. Ergebnis ist eine Platte, die in neun Songs nicht viel mehr sagen könnte - musikalisch und textlich, wobei hier neu ist, dass Jónsi sich größtenteils des Englischen bedient, und nicht isländisch oder gar hopelandish (Sigur Rós' eigene Fantasiesprache) singt.

Klar ist, dass die Erwartungen an eine solche Platte - vor allem nach der Veröffentlichung des Vorab-Feuerwerks "Boy Lilikoi" - viel höher nicht hätten sein können. Doch die Messlatte hat nur einen Namen: Sigur Rós, und so wie Jónsi diese mitangehoben hat, findet er einen Weg, sich vom Bandsound abzuheben. Im Vergleich zu "Go" gibt es auf Sigur-Rós-Platten, mit Abstrichen bei "Með Suð I Eyrum Við Spilum Endalaust" fast nur Herbst am Geysir, und es schwimmt auch keine Hüpfburg auf ihm, lediglich auf der besagten letzten Platte rieselt es beizeiten ein wenig Konfetti. Soll heißen: Dieses Album ist um einiges poppiger und hibbeliger ("Boy Lilikoi", "Animal Arithmetic") als das Material der Band - aber ohne Melancholie und Moll-Harmonien außer Acht zu lassen ("Kolnidur", "Grow Till Tall"). "Go" ist vielseitig, aber alles andere als beliebig. Es ist mal eine warme Tasse Tee im Winter und mal ein frischgepresster Fruchtsaft an einem warmen Tag, ganz, wie der Hörer gerade fühlen mag.

Und so berührt diese Platte in jeder Lage, und das tut sie ungemein, und ungemein tief. Man mag ihr beizeiten Tendenzen zum Kitsch vorhalten, doch ist dies, wenn überhaupt würdevoller Kitsch, angeregte Glückseligkeit und übersprießende Freude, verschmelzen zu können mit diesem überirdischen Gesamtkunstwerk. Man möchte aufspringen, jeden umarmen, Gutes tun (We all grow old // Use your life // The world goes and flutters by; aus "Boy Lilikoi), verstehen, wie wunderbar es ist, wenn etwas wächst, an dem man selbst Teil hat und wie alles weitergeht (We all want to grow with the seeds we will sow // We all want to go with the trees // We all want to know when we're all meant to go; aus "Around Us"). "Go" hören fühlt sich an wie Verstehen, Teil eines großen Ganzen zu sein, spielt viel mit Naturmotiven, vermittelt ein Gefühl, welches nur schwer zu beschreiben ist und hier allein durch die Sprache der Musik ausgelöst wird.

Am Ende der Jahreszeiten, wenn man nach dem wundervollen "Hengilás" zufrieden lächelnd auf der Hüpfburg einschläft, bleibt die magische Sicherheit, dass das, was hier passiert ist, wohl nicht sachlich zu erklären ist, sondern nur mit dem Herzen. Gerade auch im Hinblick auf die mittlerweile abgelaufene, wunderbare Tour, mit einer Show, die nur offene Münder und stille Dankbarkeit, dass es so etwas gibt, hervorrief (sehr zu empfehlen: das mittlerweile erschienene "Go Live"), möchte man Jónsi eigentlich nur seinen eigenen Text auf ein Blatt Papier schreiben, ihn zu einem Papierflieger falten und ihm zuwerfen: "I see you in the trees // I see you're colorful // I see you in the breeze // You're spiritful" ("Animal Arithmetic").

Letztlich scheitert "Go" an der Höchstbewertung nur durch den Vergleich mit dem Gesamtschaffen Jón Þór Birgissons, wäre dieser zuvor ein unbeschriebenes Blatt Papier gewesen, hätte es die 5/5 ohne großes Zögern gegeben - doch Alben wie "()" haben noch - unvorstellbar, dass das geht - einen entscheidenen Deut mehr Tiefe und Unerklärbarkeit. Auch unvorstellbar, dass jemand aus dem Dunstkreise Sigur Rós' einmal etwas veröffentlicht, das nicht völlig überirdisch erscheint.

Daniel Waldhuber

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