Rezension

Einstürzende Neubauten

Lament


Highlights: The Willy – Nicky Telegrams // Lament // Sag Mir Wo Die Blumen Sind
Genre: Noise // Konzeptalbum // Theater // Avantgarde
Sounds Like: Blixa Bargeld // Hitmans Heel // Swans // Tom Waits

VÖ: 07.11.2014

Passender könnte die Auswahl der Band nicht sein, welche von einer belgischen Gemeinde (Dikemuide) ausgewählt wurde, ihre Urkatastrophe – und die der ganzen Welt – zu vertonen. Also machten sich die Einstürzenden Neubauten auf den Weg, durchforsteten Archive, lasen Tagebücher und entdeckten historische Aufnahmen. Nach einer Uraufführung am Ort des Geschehens erscheint nun „Lament“, die Wehklage über den Krieg.

Zunächst unbemerkbar, später ruhig und schleichend setzt sie sich in Gang, die „Kriegsmaschinerie“. Eher ein Grollen im Hintergrund. Was folgt, sind die „Hymnen“. Etwas verstörend ist es, nach hundert Jahren gesungene patriotische A-Cappella-Texte über Kaiser und Vaterland zu hören. Willy und Nicky, gemeint Wilhelm II. und Zar Nikolaus, tauschten so einige, beschwichtigende und beruhigende Worte aus. Ihre Telegramme sind Inhalt eines wie Popmusik anmutenden Stückes. Den Ausgang dieses Mächtigenspiels erlebt auf anderer Seite Paul van den Roeck, der in den Schützengräben des Krieges 1916 über das Tanzen sinniert (Im späteren „Achterland“ kommt er noch einmal zu Wort).

In „Der 1. Weltkrieg“ setzen die Neubauten für jeden Kriegsteilnehmer ein Perkussionsinstrument – hier die allseits bekannten alten Baumarktrohre, welche sich immer weiter mit neuen Tönen überlagern. „On Patrol In No Man‘s Land“ und das abschließende „All Of No Man’s Land Is Ours“ entstammt dem Fundus der „Harlem Heel Fighters“ – einem Regiment afroamerikanischer und -puertoricanischer Soldaten, die die Kriegsgräuel in ironischen Worten vertonten. Das eindringliche Highlight der Albums ist die Coverversion zu „Sag Mir Wo die Blumen Sind?“, welches durch Marlene Dietrich bekannt wurde. Blixa Bargeld schafft es, dem Lied eine beklemmende Atmosphäre zu verleihen – gen Ende unterstützt von einem Fiepton, der einem Herzfrequenzmessgerät gleicht, welches keine Ausschläge mehr verzeichnet.

Einen etwas ratlosen Eindruck hinterlässt beim Anhören das Stück „Der Beginn Des Weltkrieges 1914 (dargestellt unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators)“, in dem Bargeld eine Art Fabel des Künstlers Joseph Plaut wiederholt. Insgesamt ist „Lament“ jedoch nicht zu verkopft, die Einstürzenden Neubauten schaffen es auf ein Neues, Kunst, Kultur und Musik in einen Einklang zu bringen, so dass hier zwar an ein komplexes Thema herangegangen wird, das Album aber auch als solches funktioniert. „Lament“ ist kein Theaterstück, bei dem die Handlung außerhalb der Platte stattfindet, sie ist mittendrin.

Klaus Porst

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Artikel zum Album bei der "Zeit"
www.zeit.de

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