Rezension

Autechre

Quaristice


Highlights: Lo // Perlence // Paralel Suns // 90101-51-1 // Notwo
Genre: Glitch
Sounds Like: Aphex Twin // Mouse on Mars // Clark

VÖ: 29.02.2008

Ein Bild einer Reise, gefilmt von Klängen durch Widerstände, Kapazitäten und Ströme, mit quadratischen Zahlkörpern, Faltungen und Distributionen. Alles beginnt an einem ruhigen Strand westlich von Kiel oder auch östlich von Torquay oder gar vor den Toren New Yorks: Leise brechen die abendlichen Wellen.

Plötzlich, ein Wind kommt auf, Kälte überspült uns. Nervös flattern verschlafene Vögel auf. Ein Pulk Jugendlicher zieht johlend und scherzend vorbei. Unruhe durchfließt dich und mich. Wir müssen los. Steigen ins Auto, die Kurzwelle bringt statisches Rauschen. Zerstört klingen Wortfetzen an unsere Ohren. Link-fon-wahl-kommun-katast. Ein Trupp Motorradfahrer – die Jugendlichen von eben? – überholt uns knatternd und mit vulgären Gesten. Klischees. Verwirrt schauen wir uns an. Fühlen uns in einem Film von Lynch. Einem Gemälde von Crewdson.

Der Versuch zu kommunizieren scheitert. Worte verkommen zu puren Tonfolgen ohne Inhalt, ohne Sinn. Lachen überkommt uns. Wir bleiben halten. Am Hessenstein, am Völkerschlachtdenkmal, am Herkules. Wo auch immer. Sterne und Sturm füllen Augen und Ohren. Die Tür zum Denkmal aufgebrochen, steigen wir hinauf, gefühlt hinab. Angekommen fällt eine Münze herunter, poltert übermäßig laut hinab, tief, tiefer als es ginge. Der Sturm tost. Er rauscht in den Ohren. Das Wort, das du sagst, verweht, erreicht mich nie. Schnell hinab, bloß weg. Schnell, schneller, Geschwindigkeit, Kurve um Kurve.

Langsamer, kaum ein Drittel der Nacht vorbei. Was tun. Miniaturen des Erlebens, verwischt, ein Moment klar, der nächste nicht zu unterscheiden vom vorvorhergenden. Eine vibrierende Saite, auf der du spielst, bin ich.

Eine Baustelle, die Ampel auf Rot. Wird ein Auto kommen, kann ich es wagen, Rauschen, Klappern, alte Wohnmobile, ein Jahrmarkt auf dem Weg in die nächste Stadt erscheint. Bunt blinkende Birnen in den Fahrerkabinen der Transporter. Die indische Wahrsagerin hält an, kommt zu uns herüber, will uns die Zukunft, unsere Zukunft erläutern. Wir versperren das Auto, kriechen ineinander. Sex. Paralel Suns, nicht berührend. Verbunden. Gravitation.

Pochende Herzen, Ekstase des Fühlens, Hormone durchfluten, elektrische Impulse durchzucken die Körper. Stählerne Konstruktionen in einer perfekt aufeinander abgestimmten Maschine, ein pneumatisches Patent. Ruhe und Ausbruch. Anspannung und Loslassen. Danach. Auf dem Adrenalinhoch schweben wir im Auto über die Straßen. Kilometer um Kilometer. Ohne Pause. Schnurgerade scheint die Welt hinter uns zu verschwinden. Das Blut pulsiert durch unsere Adern. Unser Puls so intensiv beeinflusst unser Hör- und Sehvermögen. Ein Tanklastzug der Firma Kern bleibt hinter uns zurück.

Nördlich des Stahlwerks bleiben wir stehen. Beobachten den roten Glanz, der aus den Ritzen der Maschinen bis zu uns herüberscheint. Es stampft. Ein Pressen, ein Ziehen, ein Walzen. Selbst hier ist der Lärm ohrenbetäubend. Industrieromantik kommt nicht auf. Die Musik (scheinbar) funktionierender Industrie. Die nächste Station, die Müllverbrennung. Auf dem Weg dahin, die Disko „fwzE“. Dort spielen sie heute Glitch.

Auf der 90101-51-1 machen wir uns sitztanzend auf den Weg zurück zur See. Das Adrenalin ebbt ab. Die Stimmung jedoch steigt weiter. Lachend und scherzend erinnern wir uns an vergangene Festivals und Konzerte. Dabei, schlechte Erinnerungen. Es beginnt zu rumpeln, du wirst grummelig. Ich ungehalten. Nur der Regen auf dem Dach spielt ein lustiges Spiel in Theswere.

Bald können wir nicht mehr fahren. Die Scheibenwischer sind am Ende. So auch ich. Bedrohlich wetterleuchtet es am Horizont.

Beruhigung? Du schiebst Quaristice ins Kassettendeck. Spulst vor. Wir sind zurück am Strand. Noch ist es Nacht. Sand und Steine sind nass. Im Schlafsack kuscheln wir uns aneinander. Zusammen, zwei, fühlen uns eins. Die Wellen plätschern sanft und doch unruhig, einschläfernd und doch Schlaf verhindernd an den Strand. Der Sturm hat sich gelegt. Im Osten zeigt sich ein erstes leichtes helles Anbrechen.

Assoziativ. Klänge, einzeln, verworren. Musik an den Rändern ihrer Definition. Spannung aus der Einfachheit des Chaos. Irrational, mathematisch. Klar definierte Ausweglosigkeit.

Ein Erlebnis. Einmal mehr produziert von Autechre. Fordernd. Faszinierend. Lohnend. Für jeden anders.

Oliver Bothe

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Bye-Bye



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