Rezension
The Dillinger Escape Plan
Ire Works
Highlights: Fix Your Face // Black Bubblegum // Dead As History // Mouth Of Ghosts
Genre: Math-Core
Sounds Like: (frühe) The End // The Bled // Mike Patton
VÖ: 09.11.2007
In seinem Essay „The Critic as an Artist“ behauptete Oscar Wilde vor etwa 117 Jahren, dass herausragende Kunst stets eine Selbstgewissheit vorausetzt, die sich auf kompetente Kritikfähigkeit stützt und so das eigene Schaffen zu Höchstleistungen treiben kann. Was hat das mit The Dillinger Escape Plan zu tun? Nun, wenn einem die Band auf ihrer neuen Platte in den ersten Sekunden direkt mit dem Arsch ins Gesicht springt, die Gitarren beim Taktezerhacken klingen wie ein Schwarm Hornissen, der wie ein Karnickel einen Elefanten zu begatten versucht und komplettiert werden durch einen spastischen Schlagzeuger, der seinen Affenzahn vermutlich King Kong persönlich herausgerissen hat, dann blitzt als erste Assoziation nicht unbedingt einer der relevantesten englischen Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts auf. Dreht der Rezensent nun also völlig am Rad? Oder hat er im Suff die Einleitung seiner letzten Hausarbeit in die Rezension kopiert? Und was hat Wildes Statement denn nun bitte mit Ire Works zu tun?
Nun, es liefert uns die exakte Begründung, warum das vierte Album dieser Psychopathen genau so klingt, wie es klingt. Diese Band weiß, dass sie zu den ekstatischsten Live-Acts dieses Planeten gehört, weiß, dass sie zu einer selten so gehörten Brutalität fähig ist. Und sie weiß auch, dass Stagnation in ihrer Musik nichts zu suchen hat. Aus dieser Position, dieser Selbstgewissheit, diesem Selbstbewusstsein ist diese Platte entstanden. Der steinige, riskantere Weg wurde als reizvoller empfunden. Nachdem Shouter Greg Puciato erst auf dem letzten Album „Miss Machine“ dazugestoßen war und die Band um eine gesangliche Facette erweiterte, hat dieser nun enorm an sich gearbeitet. So sehr, dass nicht einmal der Vergleich mit Mike Patton (mit dem die Band einst die „Irony Is A Dead Scene“ Ep aufnahm) zu scheuen braucht. Shouter? Der Mann ist Sänger.
Bestes Beispiel: „Black Bubblegum“: Hier merkt man, dass die Band auf ihrer letzten Veröffentlichung, der „Plagiarism“-Ep, einen Heidenspaß daran hatte, Justin Timberlake zu covern. Eierkneif-Vocals gesellen sich zu einem smarten Groove und man ertappt sich mit heruntergeklappter Kinnlade. Boshaftes findet sich natürlich immer noch, und zwar in den Lyrics: „But you forget that in your fairy tale, i'm the wolf“ und dann im Refrain (ja,Refrain!): „You're made for four word fame, regret is part of your name“. Ein Song, der deutlich über eine Horizonterweiterung hinausgeht. Danach driftet die Platte ab, das Doppel aus Schrammelgitarrenelektronikgefriemel („Sick on Sunday“) und Angstmusik („When Acting As A Particle“) verwirrt, um uns dann mit „Nong Eye Gong“ einfach wieder kompromisslos auf die Kauleiste zu kloppen. Wer sich sicher fühlen will, soll Mika hören.
Hätte früher jemand prophezeit, dass The Dillinger Escape Plan eines Tages mal ein Piano einsetzen würde,man hätte den werten jemand wohl ohne Umschweife in die Klapse verfrachtet. Aber Tatsache ist: Während es dem straighten Riff-Rocker „Milk Lizard“ (der so auch von Faith No More stammen könnte) einen morbiden Anstrich verpasst, malt das Tasteninstrument den an Nine Inch Nails erinnernden Brocken „Dead As History“ in finstersten Farben aus. Der Text, ein verflucht cleverer Refrain, die Melodie, Metalriffs, Piano, Industrialgezirpe. Herrgott, hier passt alles. „Time is always right behind us, like the lamb under the gun.“ Amen. Im siebenminütigen, mit Swing- und Jazzrhythmik hantierenden Abschluss „Mouth Of Ghosts“ spielt das Klavier dann sogar die Hauptrolle. Arrangement-Geschick auf Weltniveau, ein umwerfendes Ende.
Ein Quantensprung und ein Meilenstein extremer Musik. Keine einzelnen Songs, sondern eine durchkonzeptuierte Einheit aus komplexen, um die Ecke gedachten Kompositionen. Wut funktioniert, da haben sie recht. Sie flammt auch das gesamte Werk hindurch immer wieder in ihrer extremsten Form auf, verziert wird sie jedoch mit ausdifferenzierten Songperlen, die dazu verleiten, sich diesen kranken 40-minütigen Trip immer und immer wieder zu verabreichen. Brutal hart und musikalisch anspruchsvoll sind sie immer noch, letzeres sogar mehr denn je. Die-Hard Fans der Anfangstage werden sich trotzdem vor die Tür gesetzt fühlen. Wie das aber mit großer Kunst nun mal so ist, wird, nein, muss sie polarisieren. Auch das steht in Wildes Essay. 117 Jahre und er wird trotzdem Recht behalten.
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