Rezension

Harvey Milk

A Small Turn Of Human


Highlights: I Just Want To Go Home // I Did Not Call Out
Genre: Experimenteller Metal // Doom Metal // Noise Rock
Sounds Like: Sunn0))) // Sleep // Earth

VÖ: 18.06.2010

Der Eintrag für "Metal" auf Wikipedia: “In den Augen der Fans zeichnet sich die Musik vor allem durch ihre Intensität und Authentizität aus. Erstere Eigenschaft lässt sich vor allem mit ihrer Lautstärke, ihrem straffen Rhythmus, der oft hohen Geschwindigkeit, ihrem Spiel von Dissonanz und Konsonanz sowie ihrer im Vergleich zur Popmusik meist größeren Komplexität begründen.” Heavy Metal ist keine plumpe Unterhaltung, Heavy Metal ist Hochleistungssport. Ein endloses “Höher, Schneller, Weiter”: fingerbrechendes Gitarrenabschleifen, mörderische Überschallgeschwindigkeiten und trommelfellzerfetzende Doublebassorgien. Total extrem und crazy. Yeah.

Harvey Milk sind zum Glück anders. Benannt nach dem 1978 erschossenen schwulen amerikanischen Bürgerrechtler und Politiker, distanzieren sie sich bereits durch die Bandtaufe von der latent homophoben und kraftmeierischen Metal-Sippschaft. Auch sonst scheinen die Jungs aus Athens, Georgia, mit der seltenen Gabe eines kranken Humors gesegnet. So zerriss die Band im März in einem Interview mit dem “self-titled”-Magazin genüsslich ihre gesamte Discographie und erwürgte alle Erwartungen an das neue Album: “We have reached the point of complete and total creative bankruptcy, but at least we made it shorter than the last record, so you can get through listening to it and return it to the store for a refund faster.”

Das eigentlich Perverse an diesem Urteil ist nun, dass es die reine Wahrheit darstellt. Ja, die Platte ist in der Tat zermürbend repetitiv und einschläfernd trostlos und nein, man kann es der Band nicht einmal ankreiden, weil diese stilistische Beschränkung selbstauferlegtes Kalkül ist. Es wäre nun jedoch ein Trugschluss, Harvey Milk als Spaßband misszuverstehen. “A Small Turn Of Human Kindness” ist eines sicher nicht: lustig und unterhaltsam! Mit der stoischen Präzision eines Metronoms werden 7 Lieder lang klobige Akkordabfolgen aneinander gereiht. Aufs Schlagzeug wird in Zeitlupe eingedroschen und abgekämpfte, heisere Stimmbänder röhren gegen die gesamte gottverdammte Welt. Zarte Versuche, Abwechslung ins Gitarrenspiel zu bringen, enden hier in einem Oszillieren auf wenigen grotesk verzerrten Tönen und erinnern in “I Just Want To Go Home” auch eher an Luftangriffsirenen, als dass sie den hymnischen Höhepunkt eines Liedes darstellen.

Gerade durch die konsequente Verweigerung gegenüber einprägsamen Liedentwicklungen verlieren sich viele Ideen im Nichts; der Hörer bekommt 37 Minuten lang die gleiche schlammige Ursuppe vorgesetzt. Unterbrechungen wie der hingeflüsterte Klavierschluss von “I Know This Is All My Fault” lösen sich spätestens zu Beginn des folgenden Liedes wieder in den altbekannten Elementen auf. Lediglich der Rausschmeißer “I Did Not Call Out” schafft es, durch das Auftürmen verschiedener Schichten genuin hymnisch zu wirken und entlässt so den Hörer gleichzeitig besänftigt und frustriert wegen der Offensichtlichkeit verpasster Möglichkeiten.

In verbitterten und einsamen Stunden entfaltet dieses sehr eigenständige Album gewiss seinen ganz eigentümlichen Sog, trotzdem ist es wohl selbst für die meisten hartgesottenen Metalfans zu karg, schroff und ziellos. Durch die stilistische Beschneidung haben sich Harvey Milk zu einem One Trick Pony degradiert: Dies wird besonders im direkten Vergleich mit dem viel abwechslungsreicheren Vorgänger “Life... The Best Game In Town” deutlich.

Wem empfiehlt man nun dieses Album? Autisten und Manisch-Depressiven? Ja. Und denen, für die Musiker eher Stimmungserzeuger und Klangflächenarchitekten als Ohrwurmfabrikanten sind. Und natürlich allen, welche Heavy Metal immer noch auf vollgekotzte Jeanskutten im Landjugendheim reduzieren.

Yves Weber

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