Rezension

Die Kassierer
Physik
Highlights: Zitronenhai // Was Für Ein Ticker Ist Ein Politiker // No Future // Das War Gestern // Der Mann Der Rückwärts Spricht
Genre: Punk // Chanson
Sounds Like: Die Ärzte // Lokalmatadore // Eisenpimmel
VÖ: 24.09.2010

Hmm, alles wie immer und doch irgendwie anders. Die Kassierer können nichts dafür. Die bleiben sich treu. Ein bisschen Fick- und Sauflied hier, smarte Instrumentierung dort und dazu Texte, die zwischen interessant, frivol und meschugge pendeln. Vielleicht liegt es ganz einfach daran, dass man sich an die Wattenscheider Artikulationskunst gewöhnt hat. Vielleicht aber auch schlichtweg daran, dass das alles nicht mehr schockiert. Schließlich ist die heutige Jugend teilweise schon härteres gewöhnt. Was bleibt also den Kassierern noch? Ein unterhaltsames Spaß-Album zu machen. Das gelingt eigentlich recht gut.
"Physik" lautet der Titel und diesem Thema nehmen sich die Kassierer vielschichtig an. Da wird teleportiert, zitiert (Nils Bohr), über das Universum sinniert oder ganz einfach über die Welt, Alkohol und Kot philosophiert. All das natürlich nicht zu hochgestochen, aber auch nicht zu plump. Höhepunkte sind auf der Platte immer dann, wenn Instrumentierung und Text ein kongeniales Paar bilden. So zum Beispiel wenn in „Ich war ein Spinner“ zum Ska geschunkelt werden darf. Genauso lustig sind „Mir ist alles piepe“ und „Im Sauerland kann man teleportieren“. Das passt auch ins „Humb-Humba-Täterä“-Zelt oder zum Karneval. Seefahrer-Romantik versprüht der „Zitronenhai“ – begleitet von Mitgliedern des Bochumer Zither-Orchesters (!). Ihre immer wieder propagierten Prinzipien von Arbeitsverweigerung nehmen sie in „No future das war gestern“ aufs Korn. Zur Orgel vom Mambo Kurt rappt (!) Wölfi sich einen ab. Da heißt es: „No future, das war gestern. Fleiß und Arbeit kommen jetzt dran. Talent und Leistung, das ist wichtig. Nur mit Zielen lebst du richtig.“ Herrlich! Toll auch (musikalisch) „Das Lied vom Kot“, das mit einer „Phantom der Oper“-Gedächtnis-Orgel aufwartet. Mit „Was für ein Ticker ist ein Politiker“ liefern Die Kassierer außerdem eine äußerst gelungene Hommage an ihren heißgeliebten Georg Kreisler ab. Und zum Schluss traut sich dann noch eine Frau mit ihrem Gesang auf die Platte. „Sabine Sabine“ heißt sie mit Künstlernamen und hievt „Der Mann der rückwärts spricht“ zu einem Höhepunkt der Platte.
Oft zeigen die Kassierer, dass sie weit mehr sind als stumpfe Proll-Punker. Die Ärzte sind da näher als die bedeutend dumpferen Genre-Kollegen von den Lokalmatadoren oder Eisenpimmel. Schwächen gehören dazu. Nicht alles ist super. Der „Drillinstructor-Song“ langweilt etwa und ist nicht wirklich inspiriert. Und nicht jedes Sauflied ist eine Perle, genauso wenig wie „Ich fick dich durch die ganze Wohnung“ (gähn). Doch das gehört dazu. Drüberstehen tun sie allemal. Zu Beginn von „Der Song von den brennenden Zeitfragen“ analysiert Wölfi auch mal schonungslos ehrlich seinen Gesangsstil: „Wenn man gut singen kann, singt man ein Lied. Wenn man weniger gut singen kann, singt man einen Chanson. Wenn man gar nicht singen kann, singt man einen Song. Wir singen jetzt einen Song.“ Da mag man nicht widersprechen.
Kunst machen Die Kassierer immer noch irgendwie. Mit dem Unterschied, dass die Zensurbehörde sich in der heutigen Zeit nicht mehr um die Wattenscheider schert. Da sind derzeit derbere Gesellen unterwegs. Die stärksten Momente auf „Physik“ haben Wölfis Mannen, wenn es sich nicht plakativ ums Saufen und Ficken dreht. Schocken tut das eh niemanden mehr. Warum sich also nicht ganz der smarten, zweideutigen und auch mal gerne durchgeknallten Lyrik widmen. Frech dürfen sie ja bleiben. Das Potenzial dazu ist vorhanden, die musikalische Bandbreite ohnehin. Das wäre doch mal was.
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