Interview
The King Blues
Hallo! Wie läuft die Tour bisher?
Jonny "Itch" Fox: Voller Erfahrungen. Das ist das erste Mal, dass wir wirklich hier touren. Es ist sehr spaßig und die Broilers kümmern sich hervorragend um uns.
Bei euren UK-Touren habt ihr hin und wieder Sprecher bestimmter Organisationen auf der Bühne, die ihre Anliegen vortragen, unter anderem der "Sophie Lancaster Foundation". Könnt ihr mir darüber etwas erzählen?
Itch: Die Sophie Lancaster Foundation wurde von zwei sehr mutigen Frauen ins Leben gerufen, die sich nun in einer Situation befinden, in der sie eigentlich nie sein wollten. Sophie Lancaster und ihr Freund wurden überfallen und verprügelt, weil sie zu einer bestimmten Subkultur gehörten, was zum Tod der beiden führte. Diese Organisation reist durchs Land und versucht, ihre Botschaft zu verbreiten, die im Großen und Ganzen Toleranz ist. Viele verschiedene Organisationen und Kampagnen finden auf unseren Gigs Gehör, aber insbesondere die Geschichte von Sophie berührt viele in unserem Publikum, weil sie wissen, dass es genauso gut sie hätte treffen können.
Jamie: Das Publikum bei unseren Shows besteht nicht nur aus Punkfans, Anhänger vieler verschiedener Subkulturen finden sich dort. In den letzten Jahren habe ich mit vielen gesprochen und gemerkt, dass sich viele wie die Außenseiter der Außenseiter fühlen – sie kommen bereits aus eher speziellen Subkulturen und fühlen sich selbst dort manchmal ausgeschlossen. Daher ist es wirklich schön zu sehen, wie die Kids nach den Konzerten zu Sophies Mutter und den anderen Mitgliedern der Organisation gehen, mit ihnen reden und sich Flyer mitnehmen.
Auch auf euren Alben, insbesondere "Punk & Poetry", sind politische und soziale Aspekte stets ein wichtiges Thema. Ich merke oft, dass eure Songs sehr kritische und zornige Inhalte transportieren, aber in sehr fröhliche Musik verpackt sind. Man muss nur "Set The World On Fire" mit "We Are Fucking Angry" vergleichen.
Itch: Das ist besonders für eine politische Band wichtig. Wir gehören nicht zu den Leuten, die andauernd nur wütend sind und lieben auch viele Arten von Musik. Viele politische Bands machen den Fehler, beinahe marxistische Reden mit Musik zu verbinden, und sich das anzuhören, macht wirklich keinen Spaß. Das möchte niemand hören. Wir möchten unsere Ideen aber auch Leuten nahe bringen, die sie nicht sowieso schon teilen. Wir finden, dass die Botschaften, um die es geht, größer als nur Punk sind und mehr Leute betreffen als eine Elite, die sich ständig von sich aus damit befasst. Es passieren im Leben ja auch viele schöne Dinge, was unsere Musik ebenfalls widerspiegeln soll.
Weiß man an einem bestimmten Punkt, wann ein Song wütend oder fröhlich wird?
Jamie: In der Mitte (lacht).
Itch: Nicht wirklich, wir versuchen Songs häufig in vielen verschiedenen Versionen, Reggae, Punk... Oft ist es offensichtlich, manchmal probieren wir einfach alles aus.
Ihr meintet gerade schon, dass eure Botschaft größer als Punk wäre und die Zeile this is class war aus "We Are Fucking Angry" lässt sich ja auch auf die London Riots im August beziehen. Denkt ihr, diese Ereignisse waren nur Vorzeichen?
Itch: Auf jeden Fall. Es war klar, dass so etwas passiert, wenn eine konservative Regierung nicht auf die Arbeiterklasse hört und deren Probleme einfach nicht versteht. Tottenham und diese Londoner Gegenden – da wuchsen wir auf, wir kennen uns da aus. Der Probleme dieser Gemeinschaften waren sich viele aber gar nicht bewusst – wie zum Beispiel die Polizei uns behandelt. Auch nach den Protesten wurden wir nur noch mehr verurteilt und geächtet. Auch diese verrückte Ansicht der Kollektivstrafe: Wenn ein Familienmitglied in die Proteste involviert war, konnte die komplette Familie aus ihrem Haus geschmissen werden. Natürlich gingen die Proteste teilweise zu weit, aber diese angestaute Wut war aufrichtig und musste sich irgendwann ihren Weg bahnen. Als Studenten die Proteste anfingen, hieß es noch: "Schon okay, das sind nur Studenten." Als Arbeiter mitmachten, wurde die Geschichte etwas ernster genommen, und die nächsten waren dann Arbeitslose und Arme. Deswegen wurde probiert, uns zu separieren: Den jeweils einen wurden gesagt, dass die anderen Schuld hätten, um die verschiedenen Gruppen gegeneinander aufzubringen. Menschen sind aber mittlerweile smarter und wissen, dass man zusammen stehen muss. Es gab schon immer eine ungeheure Klassentrennung in England und die Tory-Regierung vergrößert die nur noch.
Das klingt für mich nach einer Art Teufelskreis: Wer für solche Taten nur noch mehr geächtet wird, wird nur noch frustrierter.
Itch: Natürlich! Zusätzlich bekommen die Schuldigen dann noch längere Gefängnisstrafen als bei solchen Vergehen normal wäre und sind natürlich vorbestraft. Sobald man Menschen ihr Haus nimmt, ihre Chance, einen Job zu bekommen, werden sie nur noch verzweifelter und in Folge dessen auch noch wütender. Es wurde nie probiert, das Übel an der Wurzel zu packen.
Deine Prognosen für die Zukunft?
Itch: Das ist schwierig. Es wird noch einen richtigen Kampf geben. Ich würde gerne sagen, dass alle sich verbünden und die Situation verbessern würden, aber was man stattdessen beobachtet, ist, wie die politische Rechte versucht, jedem die Schuld zu geben, der nicht in England geboren ist und keine weiße Haut hat. Wir werden hoffentlich bald an einem Punkt angelangt sein, an dem Leute über wirkliche politische Alternativen nachdenken werden. Die beiden großen Parteien sind sich viel zu ähnlich. Das könnte eine dritte Partei sein, aber der würde ich auch zynisch gegenüberstehen – das bin ich allgemein, weil ich nicht glaube, dass ein Mensch sich um die Interessen aller kümmern kann. Menschen und auch Gemeinden müssen wieder mehr Selbstverantwortung erlangen und nicht auf Brotkrümel warten, die von anderer Leute Tischen fallen. Als wir als Band gestartet sind, hatten wir keinerlei Lust, daraus etwas anderes als ein Hobby werden zu lassen, und als dann Labels an uns interessiert waren, dachten wir darüber nach, das Ganze fulltime machen zu können. Irgendwann war es dann egal, ob uns Presse oder Radio featuren würde, weil wir uns selber aufgebaut hatten. Die Situation ist relativ ähnlich: Menschen müssen aufhören, sich zu sehr auf andere Leute zu verlassen, weil diese sowieso nicht daran interessiert sind, anderen zu helfen und die "Großen" immer auf Kosten der "Kleinen" leben werden.
Jamie: Ich kenne die Gemeinden, in denen die Proteste anfingen, sehr gut – in Tottenham wurde ich geboren, in Hackney haben Itch und ich uns getroffen. Wir verstehen diese Gemeinschaften wahrscheinlich besser als viele andere. Diese Separation, die man wirklich sehen kann, wenn man zum Beispiel mit dem Bus von Tottenham ins Stadtzentrum fährt – die Häuser, die Menschen – kennen wir seit Jahren. Bei uns werden Kinder mit nichts geboren und ihnen wird gesagt, dass sie nie etwas sein werden, sie sind von der Sekunde ihrer Geburt an als Kriminelle abgestempelt – wen überrascht es dann, wenn Leute wütend werden? Wie gesagt, manche Taten bei den Protesten könnten wir nie im Leben gutheißen – aber so etwas sehen wir jeden Tag. Es muss in London kein Protest stattfinden, damit Leute überfallen oder ermordet werden, das passiert andauernd. Das hat nichts mit Macht zu tun, das Problem sind verzweifelte Kids, denen gesagt wird, dass sie nie auf legalem Wege etwas sein werden – und das muss sich ändern. Steck diese Kids, die immer jünger werden, in den Knast – sie kommen wieder heraus und tun das Gleiche noch einmal, mit wenigen Ausnahmen. Wie Itch schon sagte – die Gemeinschaften müssen die Gelegenheit haben, selbst etwas daran zu ändern – ansonsten müssen sie für diese Gelegenheit kämpfen.
Glaubt ihr, dass Proteste in den 60ern wirkungsvoller waren? Das Gay Rights Movement und Black Rights Movement schienen deutlich mehr an den Fundamenten zu schütteln.
Itch: Auch damals verurteilten die Zeitungen diese Taten und erst nun, Jahrzehnte später, wird eingesehen, wie wichtig diese Proteste waren. Vielen Bewegungen geht es ähnlich: Diejenigen, die keinen Nutzen daran haben, wenn Randgruppen mehr Rechte und Freiheiten eingeräumt werden, werden das Ganze in ein negatives Licht ziehen wollen. Allgemein müssen wir Aktivisten einsehen, dass die Presse wohl oft gegen uns sein wird, aber wir kämpfen auch für deren Zukunft und hoffen, dass unsere Aktionen im Nachhinein anders verstanden werden.
Jamie: Auch jene Proteste, die 1984 in Tottenham stattfanden, werden nun sehr positiv verstanden, was damals überhaupt nicht der Fall war. Genauso werden diejenigen, die diesen August protestierten, als Diebe und Mörder abgestempelt, aber sie waren ebenso verzweifelt, wie sie es 1984 waren.
Um wieder zur Musik zurück zu kommen: Es ist interessant, dass das Album mit einem sehr positiven Lied – darüber, dass du, Itch, Vater geworden bist – endet. War das so beabsichtigt?
Itch: Ja, das war der Plan, denke ich. Unsere wichtigste Botschaft ist, dass es immer Hoffnung gibt und Veränderungen möglich sind. Wenn wir das nicht glauben würden, würden wir keine Musik machen. Wut ist eine gute Sache, aber es geht immer darum, daraus etwas Positives zu machen und nichts, das dich fertig macht. Darum geht es uns.
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