Festival-Nachbericht
Reeperbahn Festival
Wie im Mittelalter der schwarze Tod, scheint in Hamburg, Deutschlands Vergnügungshauptstadt, zu Beginn des neuen Jahrtausends das Clubsterben zu grassieren. Mussten in den letzten Jahren bereits kleine, aber feine Locations wie die Weltbühne und das Kukuun ihre Türen schließen, ging vor einigen Monaten auch das drohende Aus des Molotow – eines der laut INTRO-Umfrage beliebtesten Clubs Deutschlands – durch die Presse, auch der baldige Konkurs der Prinzenbar wird befürchtet. Traurig ist diese Entwicklung zum einen, weil die Hamburger Clubszene das Bild der Reeperbahn, Hamburgs Visitenkarte #1, prägt wie sonst kaum etwas – denn was für einen Reiz bietet der Kiez noch, wenn anstelle von kleinen Musikschuppen, Bars und, öhm, Bordellen, Burger Kings und Penny-Märkte aneinander gereiht stehen wie in einer handelsüblichen Einkaufsmeile.
Ein weiterer Grund zur Trauer ist der, dass Hamburg wohl DIE deutsche Stadt ist, die für ein Clubfestival nach dem Vorbild des texanischen South By Southwest wie geschaffen ist. Große Konzerthallen wie Große Freiheit 36 und Docks sowie schätzungsweise 2m² kleine Lädchen wie die Hasenschaukel sind - wenn man das etwas abseits liegende Bermudadreieck Grüner Jäger, Knust, Übel & Gefährlich einmal ignoriert – nur wenige Meter voneinander entfernt, und wenn die letzte Band des Tages ihre Instrumente wieder wegpackt, hat die Nacht auf eben jenen wenigen Metern gerade erst angefangen.
Da sich auch dieses Jahr fast 150 Bands an drei Tagen die Klinke in die Hand gaben, ist es ebenso sinnlos wie unmöglich, hier zu versuchen, so etwas wie einen gesamten oder auch nur einen chronologischen Überblick zu geben. Denn dass es auch 2008 beim Reeperbahnfestival wieder allerhand zu sehen und hören gab, versteht sich von selbst:
Kurioses in etwa. Wer sich freitags im wunderschönen Imperial Theater einnistete, bekam mit Son Of Dave einen Solo-Künstler zu sehen, der nur mit Mundharmonika und Gesang zu Beats herumfetzte, die wiederum aus von ihm selber eingespielten beatboxähnlichen Sounds bestanden. Ebenso ungewöhnlich, aber mit einer Menge mehr "Man-Power" ausgestattet waren dann einen Tag darauf die Schweden von I'm From Barcelona, die – wie auf jedem ihrer Konzerte - mit Luftballons, Abertausenden von Konfettifetzen und ihren eingängigen Folkpopsongs über Papierflugzeuge und das leidige Verschlafen wieder einmal den perfekten Kindergeburtstag zelebrierten.
Neben solchen Außergewöhnlichkeiten ließen es sich auch die ein oder anderen etablierten, mehr oder weniger alten Hasen nicht nehmen, die dritte Ausgabe des Reeperbahnfestivals zu beglücken. Tomte in etwa, die jedoch banduntypisch mit einem Streicher-Ensemble die Bühne betraten, Nada Surf, die das Docks bis auf den letzten Platz füllten oder die Subways, die... Ihren Auftritt leider absagen mussten, was einige Fans der Band am Freitagabend dazu veranlasste, einen Last-Minute-Verkauf ihrer Tageskarten zu versuchen. Dass diejenigen das Prinzip des Festivals nicht verstanden haben, muss nicht erwähnt werden.
Denn: Warum nicht stattdessen ein paar Newcomer anschauen, die noch gar niemand auf der Rechnung haben mag, die aber vielleicht in fünf Jahren im obigen Paragraph unter "Etablierte Namen" stehen könnten? Die mit Heimvorteil auftretenden Karamel etwa, die mit etwas Gebratze und viel Melancholie den ersten Tag in der Prinzenbar eröffneten. Oder die Dutch Uncles, die mit schrägen Taktarten, nerdigem Äußeren und ungeheurer Spielfreude aufwarteten. Warum nicht Künstler ansehen, die erst kürzlich ihr Debütalbum veröffentlichten und damit ein mittelgroßes Medienerdbeben erzeugten? Beispielsweise Get Well Soon, die auch live mit fein abgestimmtem Sound und großen Arrangements begeisterten oder Bon Iver, die das Publikum vor allem mit zauberhaftem ein- und mehrstimmigem Gesang betörten.
Photos: Get Well Soon (by Nina G. Zimmermann), Maria Taylor (by Jenny Pudel), Choir Of Young Believers (Nina G. Zimmermann)
Natürlich stellt sich da die Frage, wieviele Konzerte man sich in drei Tagen ansehen kann, ohne dem totalen Overkill zu erliegen. Auch hier gibt die Antwort das Prinzip "Clubfestival" selbst. Tür zu und zum benachbarten Imbiss - oder wenn man überhaupt keine Lust mehr hat, ins eigene Heim - geschlendert und schon hat man alles hinter sich gelassen. Ist einem Finn. trotz schöner Momente insgesamt etwas zu eintönig, wechselt man zu MIT und bekommt so innerhalb weniger Minuten den nötigen Arschtritt verpasst. Ist man das Gequiekse und den etwas seltsamen Sound bei Crystal Castles satt, wechselt man einfach zu Choir Of Young Believers und lauscht dem wundervollen Cellospiel der Cæcilie Trier. A propos, wer auf der Reeperbahn die hübschen Frauen bevorzugt...
...für den wurde auch genug für Auge und Herz geboten. So ging freitags wohl kaum jemand aus dem Imperial Theater, der sich nicht Hals über Kopf in Julia Stone verliebt hätte, die zusammen mit ihrem Bruder Angus die schönsten Folksongs des Jahres vor einer wunderschönen Kulisse präsentierte. Kaum weniger bezaubernd auch Maria Taylor, die den Knust mit ihrer schönen Stimme erfüllte und eigentlich langsam mal über den Schatten, Conor Obersts Freundin zu sein, hinauswachsen sollte oder Lykke Li, die ihre Auftrittszeit im Übel & Gefährlich neben ihren eigenen Electro-Indie-Pop-Stücken auch mit Coverversionen von Vampire Weekend und A Tribe Called Quest füllte.
"New International Music" hatten die Veranstalter als Festivalmotto ausgegeben. Dass dies auch ernst genommen wurde, zeigen die vielen, vielen Bands, die sich ohne oder mit nur einem Album ins 2008er Line Up gespielt hatten. Somit wurde das Reeperbahnfestival endgültig das Festival für Entdecker – und das hatte die deutsche Musiklandschaft wirklich mehr als nötig.
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