Konzertbericht

Morrissey


Neulich schrieb ein Leser eines Magazins, das eigentlich nur von Menschen gelesen wird, die sogar noch älter als Morrissey sind (obwohl der ja nun auch deutlich betagter aussieht, als er ist), jegliche Musik die nach 1980 erschien verachten, und sowieso im Grunde nur Dylan lieben, folgendes: "Der Heftinhalt war nicht schlecht, aber Morrissey abschreckend." Tatsächlich könnte man als Morrissey-Hasser über den Auftritt in der Heineken Music Hall sagen: Da steht ein dicklicher, alter Mann auf der Bühne, der nur das tut, was ihm gefällt und sich dabei auch noch von seinem Publikum beweihräuchern lässt. Diesem ist offensichtlich der klare Blick auf die ganze Sache mit dem Ex-Smiths-Frontmann abhanden gekommen. Morrissey der Egozentriker lebt jetzt in Rom, Morrissey hat schließlich zu sich selbst gefunden, Morrissey verachtet immer noch alle Fleischfresser, Morrissey rettet die Welt, oder zumindest die eigene Seele. Nein! würde der Morrissey-Hasser jetzt schreien, Nein!, dieser Mann ist nicht unterstützenswert, der ist Vegetarier und trägt trotzdem Lederschuhe und Nein! was für ein furchtbarer Auftritt, der hat doch seine besten Tage schon längst hinter sich, und Nein! dann auch noch dieses furchtbare Album, vollkommen überladen, kitschig, bombastig und Nein! der hat ja auch noch seine Liebe zu Kinderchören entdeckt jetzt.

Ich, als einer jener Menschen, der unfähig ist die Wahrheit, was Morrissey betrifft, zu begreifen, habe mich vor dem Konzert gefragt, ob ich anschließend bekehrt, erleuchtet, ja vollkommen verändert wieder ins reale Leben eintauchen würde. Denn Morrissey ist Gott. Niemandem gelingt es besser in einem Song, nein, sogar in zwei Sätzen das ganze Leben einzufangen und unsere Melancholie musikalisch umzusetzen.

Natürlich war ich nach dem Konzert in keiner Weise verändert. Ich war sogar noch nicht einmal glücklich. Doch von vorne...

Die Liste der Künstler, wegen derer ich nach Amsterdam fahren würde, ist kurz. Die Liste der Künstler, wegen derer ich viel Geld investieren, in einem siffigen 8-Bett-Zimmer schlafen und morgens um halb fünf aufstehen würde, ist sogar noch kürzer. Morrissey ist nicht der einzige, der darauf steht, aber er steht zumindest ganz oben.

Die Heineken Music Hall ist ein furchtbar ungemütlicher Klotz. Vor dem Konzert darf man sich mit anstrengendem Pianogeklimper beschallen lassen, vermutlich auf Wunsch des Gottes selber, später folgen italienische Schlager. Ein Morrissey-Konzert ist ein Familientreffen: Hier können Vater mit ihren halberwachsenen Söhnen hingehen, Mütter mit ihren Töchtern, oder man macht sich am besten gleich geschlossen auf und nimmt den Picknickkorb mit. Dazwischen die zu erwartenden Indiegirlies und -boylies, allerdings deutlich weniger als zuvor angenommen. Während wir brav darauf warten, dass etwas passiert, kommen wir mit einer niederländischen Familie ins Gespräch, die nur aus zwei Meter großen Männern zu bestehen scheint, was sich später auf dem Weg nach vorne als sehr nützlich erweist. Wie viele Sprachen spricht der durchschnittliche Niederländer eigentlich? Fünf? Sechs? Auf jeden Fall verdammt viele verdammt gut.

Die Vorgruppe The Boyfriends erweist sich als unerwähnenswert: Langweilige Musik, noch langweiligerer Auftritt. Offensichtlich hat der Herr Morrissey zu seinem neuen Lebensstil auch die Langsamkeit entdeckt, oder so ähnlich. Den Kinderchor hat er zum Glück Zuhause gelassen, leider auch die tolle rote Leuchtschrift. Ersatz ist ein überdimensionales Becken. Zum Einstieg gibt es erst mal viele blitzende Lichter und viel Krach.
Und dann kommt er, und ich warte auf den Blitz, der mich trifft, und warte, und warte... und nichts passiert. Nur ein stilles Strahlen für zwei, drei Sekunden, ja, da ist er und dann wird die Menschenmenge von "First Of The Gang To Die" eingenommen, singt, schiebt, schwitzt. Doch kein Familienfest, eher eine handfeste Rauferei alter Männer. Aber es ist egal, es ist alles egal. Der alte Mann auf der Bühne nämlich hat verdammt gute Laune, er lächelt sogar, er freut sich, er hat bei jedem Song diese unnachahmliche Mimik beim Singen. Einzig die Fußballchöre zwischen den Liedern veranlassen ihn zu der Frage, ob man denn hier in England sei.

Und dann beginnt die Qual für mich. Die Qual, weil ich einerseits das großartigste Konzert meines Lebens erlebe, er mir aber andererseits alle meine Lieblingssongs, von "How Soon Is Now?" mal abgesehen, verweigert. Natürlich sind die anderen Songs nicht weniger wundervoll, aber war ich nicht eigentlich nach Amsterdam gekommen, um bei "There's a light that never goes out" in Ruhe heulen zu dürfen? Nun ja, heulen darf ich vielleicht trotzdem.

Die neuen Songs wachsen live (und ohne Kinderchor) ins Unermessliche und die Betonung des Abends liegt ganz klar auf "Ringleader Of The Tormentors". "Life Is A Pigsty" scheint einzig dafür geschaffen zu sein, uns zu zeigen, dass das Leben so lange kein Schweinestall ist, wie Morrissey noch singt. Erstaunlich außerdem, wie ambitioniert das Publikum schon Texte gelernt hat, vier Tage nach der Veröffentlichung. Vor allem die Zeile "and If the USA doesn't bomb you" in "I Will See You In Far Of Places" ruft gewaltige stimmliche Kräfte hervor. Da weiß jemand, seinen Einfluss auch auf politischer Ebene zu nutzen.

Natürlich rufen die alten Smiths-Sachen trotz aller Liebe zu den Solosongs die meiste Begeisterung hervor, allen voran "Girlfriend In A Coma". Er darf das. Er darf auch nach 20 Jahren immer noch einige der besten Songs der Musikgeschichte singen ohne dabei auch nur ansatzweise peinlich zu wirken. Das tut er nur, als er auf der Bühne sein Hemd wechselt und das getragene in die Menge schmeißt. Hallo Boygroup? Auch eine Form von Gesellschaftskritik.

Und um zum rührenden Abschluss zu kommen: "Last Night I Dreamt That Somebody Loved Me". War ja klar. Auch, dass ich wirklich noch heulen musste. Auf der Liste der Leute, die mich auf einem Konzert zum Weinen bringen, steht nur Morrissey. Vielleicht ist es auch nur die Ergriffenheit der Menschen um mich herum, die ansteckend wirkt? Oder die Anstrengung und der Schlafmangel? Oder weil mir jemand auf den Zeh getreten ist? Oder aus Verzweiflung, weil ich immer noch unfähig bin, die Wahrheit über Stephen Patrick Morrissey zu erkennen? Oder auf Grund der Erkenntnis, dass er tatsächlich mein persönlicher Gott ist. Ein böser zwar, weil er mir das, was ich will, verweigert, aber immerhin ein Gott.

Am Ende bleiben nur drei Fragen offen:

1. Hält Morrissey es selber für moralisch vertretbar, Unterhöschen mit seinem Namen für 20€ zu verkaufen?

2. Warum ist Crowdsurfen in den Niederlanden verboten?

3. Wieso trifft man selbst in Amsterdam noch Leute aus Hannover?

Lisa Krichel