Rezension

Wilco

A Ghost Is Born


Highlights: Hummingbird
Genre: Indie-Folk-Pop
Sounds Like: Neil Young // Beck // Pearl Jam

VÖ: 21.06.2004

Jeff Tweedys Tablettenabhängigkeit schwirrte durch die englische Boulevardpresse, als wäre er die Queen höchstpersönlich. Es ist höchst erstaunlich welches Ausmaß seine Bekanntheit mittlerweile annimmt, auch wenn er seinen Status nach dem letzten Meisterwerk „Yankee Hotel Foxtrott“ immens ausgebaut hat. Die Therapie scheint er zur Freude aller bestens gemeistert zu haben und beteuert, dass er sich so gut fühle wie seit Jahren nicht mehr. Nachdem das Veröffentlichungsdatum aufgrund jener Vorfälle um rund einen Monat verschoben wurde, ist es nun besonders spannend bei der Geburt seines neuen Albums dabei zu sein. Herzlichen Glückwunsch Herr Tweedy, es ist ein Geist.

Apropos Geist. Die scheinen sich hier im wahrsten Sinne des Wortes zu scheiden, denn wieso findet man intensive, teils stark verzerrte Gitarrensoli Marke Neil Young auf einem Wilco Album wieder? Hat der gute alte Jeff den Rocker in sich entdeckt oder versucht er nur das stellenweise etwas einfallslose Songwriting mit „Krach“ zu übertönen? Denn sind wir mal ehrlich: Die wirklich guten Lieder dieses Albums sind die Folk- und Popsongs, die auch in früheren Zeiten die Stärke Wilcos ausmachten.

Die ersten zarten Klavierakkorde des Openers „At least that´s what you said“ breiten einen Teppich voller Melancholie aus, bis nach zwei Minuten eine knarzige bis brachiale Gitarre die friedliche Eintracht nicht nur stört, sondern in gewissem Maße zerstört. Muss das sein? Herr Tweedy meint ja. Nach der kurzen Verwirrung, folgt jedoch das versöhnliche „Hell is chrome“ mit seinem Aufruf „come with me“. Vielleicht hätte man dem Aufruf folge leisten und wirklich mitgehen sollen, denn was im dritten Lied „Spiders“ zelebriert wird, ist bei dem musikalischen Hintergrund Wilcos nicht nur ungewöhnlich, sondern ganz einfach unpassend. Krautrock! Krautrock ohne Esprit, ohne gute Melodie, ohne Einfallsreichtum. Dafür aber mit trivialem Riff, mit monotoner Ausstrahlung und mit einer Länge von fast elf Minuten. Eine Erweiterung des eigenen musikalischen Horizontes ist für die Entwicklung einer Band sicherlich essentiell, doch sollte sie doch nie so abwegig sein wie in diesem Falle. Punkt.

Letzten Endes folgt doch noch die Erlösung: Das mit einer seligen Harmoniefolge aufwartende, gen Ende anschwellende „Muzzle of Bees“, das Cembalo untermalte „Company in my back“ oder das intim gehaltene, stets reduziert wirkende Kleinod „Wishful thinking“ zeigen deutlich, dass Jeff Tweedy sein auf „Summer Teeth“ oder auf „Yankee Hotel Foxtrott“ funkelnde Songwriting immer noch beherrscht. Vor allem das filigrane, intelligent ausgearbeitete „Hummingbird“ ist einer der perfektesten Popsongs, die Wilco je veröffentlicht haben. Großartig!

Das kunstvolle (hüstel), zwölfminütige Fiepen auf „Less than you think“, bei dem sich Herr Tweedy anscheinend auf die Suche nach der einen, der wahren, der alles in sich vereinenden Frequenz macht, ist jedoch ein weiterer Tiefpunkt des Albums. Der Hörer wünscht ihm nach einminütiger, gemeinsamer Reise gutes Gelingen und verabschiedet sich mit der Hoffnung, im abschließenden „The late greats“ eine weitere versöhnliche Popperle zu entdecken. Obwohl hier jemand das Riff des Neil Young Klassikers „Homegrown“ etwas zu sehr verinnerlicht zu haben scheint, bleibt die mitreißende Stimmung des Liedes erhalten.

Nachdem die letzten Akkorde verklungen sind, bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass das Album aufgrund einiger Tiefpunkte nicht als ein homogenes, in sich stimmiges Gesamtwerk angesehen werden kann. Also Herr Tweedy: Ihre Geisterstunde hat uns an manchen Stellen tatsächlich erschauern lassen. Jedoch Glückwunsch und Danke für das wunderschöne Hummingbird.

Marcus Schmanteck

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