Rezension

The Great Bertholinis

Planting A Tree Next To A Book


Highlights: The Waltz And The Failure // For The Years // Someday Someone // Whispering Fools
Genre: Hungarophiler Indie-Pop
Sounds Like: Kaizers Orchestra // Beirut // Friska Viljor // Calexico

VÖ: 06.02.2009

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Es ist Frühling, man nimmt sich ein schönes Buch mit auf eine aufblühende Wiese, um es - an einen Baum gelehnt - zu lesen. Doch da ist kein Baum. Was also tun? Das Buch doch nicht lesen? Sich einfach auf die Wiese setzen? Nein, man pflanzt einen Baum dahin, wo das Buch ist, damit man das Buch an den Baum gelehnt lesen kann. Das ist real wertbare Imagination und damit genau das, was The Great Bertholinis auf „Planting A Book Next To A Tree“ zum Leitmotiv machen. Wie sonst könnte man erklären, dass eine Band, die aus unserer Mitte kommt und vorgibt, Nachfahren der berühmten ungarischen Zirkusfamilie zu sein, so gekonnt ungarische Volksmusik in die bewährten Strukturen europäischen und amerikanischen Gitarren-Pops einbaut?

Alle Vorurteile, die diese Randdaten unglücklicher Weise hervorrufen, sind wie weggeblasen, sobald man einmal drin ist - in dem Zirkel, der zu Bläsern, Banjo, Lapsteel, Glockenspiel, Triangel und Streichern einen Indie-Pop strickt, der mit osteuropäischer Volksmusik, Walzer und Polka unterfüttert wird. Klingt überladen, ist es aber bei weitem nicht. Ähnlich wie Beiruts „Gulag Orkestar“, ist der Umgang mit diesen popfremden Elementen vorsichtig und ausgefeilt, niemals plump und penetrant. The Great Bertholinis stellen allerdings die westliche Gitarrenmusik in den Mittelpunkt, in dessen Strukturen subtil eingeflochten wird, was bei Beirut der eigentliche Kern der Musik ist. Mit anderen Worten: wer sich der hungarophilen Musik verweigert, könnte dennoch Spaß an „Planting A Book Next To A Tree“ haben. Insofern sind The Great Bertholinis, nicht zuletzt wegen ihrer Polka-Anleihen, relativ nah beim Polka-Rock der Norweger von Kaizers Orchestra. So wird aus etwas kulturell Fremdem, tanzbare Musik für die westliche Hemisphäre.

„Time Machine“, der erste Song, wirkt noch recht unspektakulär, doch dann arbeitet sich die „hungarophile Philharmonie“ über die zahlreichen Highlights ihres Zweitlings. Und wenn dann am Ende von „Whispering Fools“ nahezu noisige Gitarrenwände dieses Album abschließen, dann weiß man gar nicht, was man da gerade genau gehört hat und wie man es einordnen kann. Die Kraft real wertbarer Imagination eben.

Andreas Peters

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