Rezension

Shearwater

The Golden Archipelago


Highlights: Castaways // God Made Me // An Insular Life
Genre: Slowcore // Indie
Sounds Like: Jeff Buckley // Antony & The Johnsons // Great Lake Swimmers // Songs: Ohia

VÖ: 19.02.2010

Es klingt nach einem fantastischen Naturereignis: Der Tag, an dem die Sonne zweimal aufging. Einen solchen Tag erlebten die Bewohner des Bikini-Atolls – zu diesem Zeitpunkt bereits seit knapp acht Jahren evakuiert – am 1. März 1954. Was jedoch in Wirklichkeit zu sehen war, war keine astronomische Rarität, sondern die Explosion der Wasserstoffbombe "Bravo", deren Sprengkraft der von 1000 Hiroshima-Bomben entsprach. Sie leitete das Ende einer mehrjährigen Atomtestreihe ein, die nicht nur – trotz Evakuierung – zu Fehlgeburten und Krebserkrankungen bei einem hohen Teil der Bevölkerung Bikinis führen sollte, sondern auch ihre Heimat bis heute unbewohnbar machen sollte. Diese Themen – der Eingriff des Menschen in unberührte Natur und das Schicksal der dadurch Betroffenen – beschäftigen Jonathan Meiburg auf Shearwaters neuem Album "The Golden Archipelago".

Insofern ist es kaum ein Wunder, dass dessen Opener "Meridian" mit der Nationalhymne des Bikini-Atolls, gesungen von den Ureinwohnern der Inselgruppe, beginnt und einen Song einleitet, der bereits fast alles beinhaltet, das "The Golden Archipelago" ausmacht und – soviel sei bereits verraten – zu einem ausnehmend schönen Album macht: Eine sanft gespielte Akustikgitarre, einzelne Klaviernoten, die wie kleine Goldtropfen die Musik benetzen und Meiburgs zerbrechlich schmachtender Gesang. Abgesehen von kleineren Details – den Percussion-Einsätzen in "Landscape At Speed" beispielsweise – ergibt sich so ein Album, das im Vergleich mit früheren Werken Shearwaters in sich noch homogener wirkt und daher vielleicht noch mehr zum Schwelgen und Genießen einlädt, sich dadurch jedoch auch in manchen Momenten den Vorwurf der Ununterscheidbarkeit einzelner Songs machen lassen muss.

Es mag jedoch gerade an diesem Kontext innerhalb des Albums liegen, dass zwei der Songs auf "Archipelago" so herausstechen, wie sie es nun einmal tun: "Castaways" zum einen, ein von Meiburg ebenso verzweifelt wie euphorisch vorgetragenes Manifest, das sich langsam in epische Höhen steigert und ein Gefühl von Erhabenheit hinterlässt. Mit diesem wirklich mithalten kann auf "Archipelago" nur "God Made Me", dessen verträumte Klavier- und Streichermelodien sich fast genau in der Mitte des Albums in einem unglaublich kraftvollen Ausbruch entladen. Es wäre pietätlos, dessen Intensität mit der der oben erwähnten Bomben zu vergleichen, und doch drängt es sich hier auf, den Bogen zur Einleitung dieser Rezension zu schließen. Denn wie tragisch die Verwüstung des Bikini-Atolls auch ist – immerhin hat sie Jonathan Meiburg dazu gebracht, ein Werk wie "The Golden Archipelago" zu schreiben. Laut aktueller Schätzungen wird die Kontaminierung der Inselgruppe spätestens im Jahr 2040 unbedenklich geworden sein, die Bevölkerung wird endgültig reintegriert werden und ihre Vergangenheit wird früher oder später vergessen sein. Die Musik von Shearwater wird uns hingegen hoffentlich mindestens so lange erhalten bleiben.

Jan Martens

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