Rezension

Radical Face

The Family Tree: The Roots


Highlights: A Pound Of Flesh // Family Portrait // Severus And Stone // Ghost Towns
Genre: Singer-Songwriter // Folk
Sounds Like: Bowerbirds // Ben Howard // Sufjan Stevens // Benjamin Francis Leftwich // Leif Vollebekk // Bon Iver // Final Fantasy // Arcade Fire

VÖ: 20.01.2012

Nicht selten haben Musiker etwas Obsessives an sich, wenn es um ihre eigene Musik geht. Ben Cooper, Mitglied der Indie-Band Electric President und der Mann, der als „Radical Face“ vor vier Jahren mit „Ghost“ eine unscheinbare, aber wunderschöne Folk-Platte aufgenommen hat, ist da keineswegs eine Ausnahme. Man fragt sich, wie er wohl die letzten vier Jahre seit „Ghost“ verbracht haben mag. Zunächst einmal hat er das Konzept seiner neuen Alben (es werden wohl drei Stück werden) erarbeitet und sich daraufhin über ein Jahr im Geräteschuppen des Gartens seiner Mutter verkrochen, um Songs aufzunehmen. Dieser Mann hat Großes vor, und es geht gerade erst los.

Mit „The Roots“, dem ersten Teil seiner Family-Tree-Reihe, lässt uns Radical Face nun am Beginn seiner Geschichte teilhaben. Er erzählt die fiktive Geschichte einer Familie im 19. Jahrhundert, bei der Tod, Krankheit und Gewalt an der Tagesordnung stehen. Doch immer wieder geschehen mysteriöse Dinge und die Grenzen zwischen Traum und Realität beginnen zu verschwimmen. Ein derartiger Abriss von „The Roots“ mag sich etwas seltsam lesen, doch Cooper versteht es wie kein anderer, seine Geschichte in poetische Worte zu fassen. Das sollte einen aber auch nicht groß überraschen bei einem Musiker, der zunächst schriftstellerisch tätig war und sich erst, nachdem er zwei fast vollendete Romane durch einen Festplattencrash verloren hatte, ganz auf das Musikmachen konzentrierte. „The Roots“ ist ein ganz besonderes Album – und das in vielfacher Hinsicht. Selten bekommt man ein Konzeptalbum zu hören, das es schafft, über seine komplette Spielzeit sowohl inhaltlich als auch musikalisch so spannend zu bleiben wie dieses Album. Ben Cooper schlüpft in die Rollen verschiedener Familienmitglieder, beschreibt ihre Erlebnisse und Gedanken und nimmt sie zum Anlass, tiefer einzusteigen und sich ganz allgemein mit Themen auseinanderzusetzen, die uns alle beschäftigen und nicht an Zeit und Ort gebunden sind. Die Texte sind es, die dieses Album zusammenhalten, da sie auch wirklich Texte sind und nicht nur eine Aneinanderreihung von Wörtern, wie Musik auch viel mehr ist als eine Abfolge von Tönen.

Man versinkt beim Hören von „The Roots“ so sehr in den Texten und stellt sich die bildhaft beschriebenen Szenen und Ereignisse so lebhaft vor, dass man zunächst einmal kaum auf die Musik achtet. Separat die musikalischen Aspekte von „The Roots“ zu beleuchten, erfordert eine gewisse Konzentration, was auch davon zeugt, wie gut hier alles zusammenpasst, so dass es sich kaum voneinander trennen lässt. Viele Elemente, die man von „Ghosts“ kennt, findet man auch auf dem neuen Album von Radical Face wieder. Beispielsweise das sehr monoton klopfende, aber nie seine Wirkung verfehlende Drumming, und auch Ben Coopers etwas näselnder Gesang hat sich nicht geändert. Dass Cooper nicht der beste Sänger ist, weiß er sicher, doch gibt es wohl niemanden, der die Texte besser vermitteln könnte als er selbst. Auffallend ist aber, dass Ben Coopers Songwriting sehr viel stringenter und überzeugender ist als es noch auf dem Vorgänger war, der bei all seinen großen Songs den einen oder anderen Durchhänger hatte.

Man könnte viele Details dieses Albums genauer beschreiben und aus jedem Song bemerkenswerte Verszeilen zitieren, doch macht es bei einem Album wie „The Roots“ wenig Sinn, da seine große Stärke das schlüssige Gesamtkonzept ist. Dieses Album muss man einfach in seiner Gesamtheit erlebt haben. Die Fortsetzung der Family-Tree-Saga wird es alles andere als leicht haben nach einem derart starken ersten Teil.

Kilian Braungart

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