Rezension
Jon Boden
Afterglow
Highlights: "Bee Sting" // "Fires Of Midnight" // "Yellow Lights"
Genre: Folkrock // Artrock
Sounds Like: David Bowie // Genesis // Kate Bush
VÖ: 06.10.2017
Der Begriff „Volksmusik“ ist hierzulande bei vielen Musikfans nicht gerade positiv belegt. Im besseren denkbaren Fall verbindet man damit Kinderliederbücher, ältere Herrschaften wie Hannes Wader, Karneval oder Oktoberfest-Unterhaltung. Im weitaus schlimmeren Fall steht das V-Wort für zackige Märsche und alpenländisches Traditionsgut, das in öffentlich-rechtlichen Primetime-Sendungen in unheiliger Allianz mit Schlager im Vollplayback auf eins und drei zerklatscht wird und wohl eigentlich Besseres verdient hätte. Die britischen Inseln haben dagegen ein etwas entspannteres Verhältnis zur eigenen musikalischen Folklore, was seit einigen Jahren etwa am Exportschlager Irish Folk beobachtbar ist. Im englischen Landesteil ist die Volksmusik etwas weniger offensichtlich bierselig, eine kleine, erstaunlich junge und sehr kreative Szene pflegt den Balladen- und Shanty-Schatz aber mit Hingabe.
Einer dieser Folklore-Fans ist Jon Boden, der jahrelang Frontmann der elfköpfigen Band Bellowhead war und hier traditionelle Songs auf ihre Partytauglichkeit in Verbindung mit Big-Band-Swing, Jazz, Rock und Vaudeville testete. Später startete er das Mammut-Podcast-Projekt „A Folk Song A Day“, mit dem er ein Jahr lang jeden Tag einen mehr oder weniger traditionellen Song interpretierte. Parallel wandte er sich aber auch vermehrt eigenen Songs zu und lieferte sein bisheriges Meisterwerk 2009 mit „Songs From The Floodplain“ ab – einem postapokalyptischen Konzeptalbum, das jede Sci-Fi-Klischeehaftigkeit komplett umfuhr und mit fantastischen Songs eine tiefgründige Meditation über die Rolle von Musik und Tradition in einer ländlich geprägten Gesellschaft am Rande des Abgrunds lieferte.
Mit „Afterglow“ verschlägt es Boden nun erneut in eine dystopische Zukunft. Im Unterschied zur (nur auf den ersten Blick) beschaulichen Idylle von „Songs From The Floodplain“ steppt hier allerdings der Bär: In den Straßen einer anarchischen Großstadt findet ein karnevaleskes Spektakel statt, an dem auch der namenlose Protagonist des Albums teilnimmt und zur Hauptfigur einer klassisch shakespearschen Handlung wird. Zwischen brennenden Ölfässern, randalierenden Freaks und krachendem Feuerwerk trifft der Mad-Max-Romeo im Opener „Moths In The Gas Light“ auf seine Julia – und verliert sie gleich wieder im Getümmel.
Seine Suche nach der Angebeteten steht über die folgenden Songs im Zentrum der Handlung. Das hätte Potenzial, doch um es gleich vorwegzunehmen: Story und Setting von „Afterglow“ tragen das Album nicht sonderlich weit. Während „Songs From The Floodplain“ der Postapokalypse in jedem Song eine neue interessante Facette abgewann, tritt Boden hier erzählerisch auf der Stelle und malt im Grunde in jedem Song dasselbe flackernde Chaos-und-Kerosin-Setting in leicht abweichenden Farbtönen. Zum Glück für „Afterglow“ – und den Hörer – rettet aber sein Talent für musikalisch ansprechende Songs das Album vor der etwas uninspirierten textlichen Komponente.
Passend zum Straßenkarneval-Setting wurde das Instrumentarium gehörig aufgestockt, lässt akustischen Folkrock ein Stück weit hinter sich und nähert sich mit E-Gitarren, üppigen Arrangements und gehörig rumorendem Schlagzeug eher progressivem Artrock im Geiste von Genesis oder David Bowie an. Wenn Boden in „All The Stars Are Coming Out Tonight“ oder „Moths In The Gaslight“ mit großem Bläser-, Percussion- und Streicher-Tamtam eine schrille Parade auf die Beine stellt, kommt die chaotische Komponente seiner Dystopie perfekt rüber. In manchen Momenten erinnern die Songs sogar an den überschwänglichen Party-Vibe, den der Multiinstrumentalist mit Bellowhead vor allem live entfesseln konnte. Dennoch sind die Höhepunkte von „Afterglow“ nicht die Songs, in denen das dickste Ölfass abgebrannt wird.
Immer dann, wenn das Instrumentarium ein bisschen zurückgeschraubt wird, kommen nämlich die wahren Perlen des Albums zum Vorschein. „Bee Sting“ etwa glänzt mit einem flexiblen Arrangement, das weitgehend von Akustikgitarren und Gesang getragen wird und nur punktuell Geigen, Oboe und Blechbläser einsetzt, damit aber maximalen Effekt erzielt. Ähnliches gilt für das melancholische „Fires of Midnight“, das über sieben Minute lange „Yellow Lights“ und den letzten Song „Aubade“, in denen sich dahinschmelzende Gesangsmelodien in perfekt ineinandergreifende, geradezu orchestrale Klänge hüllen. Neben Tracks wie diesen verkommt das akustische Dauerfeuerwerk anderer Songs ironischerweise ein wenig zu dem, was sie im Kontext der Erzählung auch darstellen wollen: einem farbenfrohen, lauten Spektakel, das im Grunde aber wenig Substanz zu bieten hat.
Bezeichnenderweise sind die ruhigen Momente von „Afterglow“ auch die, in denen das Album am ehesten an die Vorgängerplatte erinnert. Jon Bodens reichhaltig orchestrierte Ausflüge in rockige, progressive Gefilde können so zwar unterhalten, machen aus erzählerischer Sicht Sinn und zeigen eine neue musikalische Facette des Folkmusikers, der im Herzen dann doch irgendwie ein Rocker ist. Falls der Brite sein Versprechen einer postapokalyptischen Albumtrilogie hält – was unbedingt zu wünschen ist –, bleibt aber zu hoffen, dass der dritte Teil sich wieder auf die Stärken des ersten besinnt. Die sind auf „Afterglow“ zwar nicht verloren, verschwinden aber in einigen Songs unter etwas zu viel Ballast.
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