Rezension
Fucked Up
David Comes To Life
Highlights: Under My Nose // Turn The Season // Ship Of Fools // One More Night
Genre: Punk-Rock // Hardcore-Punk // Experimental
Sounds Like: Black Flag // Titus Andronicus // Career Suicide // Brutal Knights
VÖ: 03.06.2011
Eigentlich waren sie immer schon die ambitionierten Musterschüler. Während ihre Hardcore-Klassenkameraden sich damit begnügten, mit Powerchords, Phrasen und Schlagringen zu jonglieren, trainierten Fucked Up Körper, Klampfe und Geist. Gefühlte 50 Singles auf Winziglabels, die Vertonung der chinesischen Tierkreiszeichen in Überlänge, die ehrliche Infragestellung des Glaubens in einer Zeit der Vernunft auf „The Chemistry Of Common Life“, Saxophonsoli, Flöten, Orchester, Brimborium. Fucked Up wagten alles. Und sie schafften alles. Dass bei dieser puritanischen Arbeitswut irgendwann mal der ganz große Wurf gelingen würde, war nur eine Frage der Zeit. Dass allerdings ausgerechnet eine 80-minütige Rockoper über einen englischen Fabrikarbeiter genau dies und kein überambitioniertes Egogewichse wird, hätte wohl niemand erwartet. Die letzte größere Rockoper endete bekanntlich am Broadway. „David Comes To Life“ wird diese Peinlichkeit hoffentlich erspart bleiben: „Hello my name is David, your name is Veronica, let's be together, let's fall in love.“
Tatsächlich drängt sich beim Versuch, die Handlung zusammenzufassen, der Verdacht auf, dass Fucked Up nun endgültig am Rad drehen. David, ein englischer Fabrikarbeiter aus dem fiktionalen Byrdesdale Spa in den späten Siebzigern, führt ein gleichgeschaltetes Leben, bis die linke Aktivistin Veronica ihn mit einem Pamphlet erweckt. Allerdings hat Veronica ihr Anarchist Cookbook nur nachlässig studiert: Ein fehlgezündeter Sprengkörper katapultiert sie aus dem Leben und David aus der Bahn. So weit, so nachvollziehbar. Das ist allerdings nur der erste Akt von vier. In den späteren greift die Band tief in die narratologische Trickkiste, verwendet alternierende Blickwinkel und lässt schlussendlich sogar den Erzähler Octavio metaleptisch sein eigenes Eingreifen rechtfertigen. In seiner labyrinthischen Verwinklung ist „David Comes To Life“ gleichzeitig Hommage an und Parodie auf die großen Rockopern der Siebziger. Glücklicherweise sind sich Fucked Up ihrer Megalomanie bewusst: Der im Stil des shakespearischen Theaters verfasste Prolog im Booklet nimmt die eigene Vermessenheit augenzwinkernd auf die Schippe und bittet den Hörer um eine nachsichtige Beurteilung.
Doch gerade dieser Panoramablick macht „David Comes To Life“ zu einem abgeschlossenen Universum, in dem man mühelos versinken kann. Bereits für den Record Store Day haben Fucked Up die Compilation „David's Town“ veröffentlicht. Diese Liebeserklärung an obskure lokale Musiksampler der Siebziger versammelt die fiktionalen Lieblingsbands Davids, welche natürlich von Fucked Up selbst eingespielt wurden. Ergänzt wird diese Erschaffung einer Sandkastenwelt durch die mittlerweile wohlbekannte Ikono- und Typographie, an deren Konsequenz bloß noch Black Flag heranreichen. „David Comes To Life“ ist mehr als jemals zuvor intermediales Gesamtkunstwerk. Und vielleicht werden ja selbst die von Damian Abraham angedachten Action-Figuren eines Tages Realität.
Allerdings will selbst die verzahnteste Welt mit Leben gefüllt werden. Und davor strotzen die 18 Songs auf „David Comes To Life“. War überbordende Energie stets eine Stärke von Fucked Up, so schafft es die Band nun zum ersten Mal, ihre Aggression in Euphorie zu bündeln. Allerdings sollte man die neu entdeckte Zugänglichkeit nicht mit Poppigkeit gleichsetzen: „David Comes To Life“ vermöbelt immer noch unbefleckte Radiohead-Hörer. Selbst der zuckersüße Frauengesang auf „Queen Of Hearts“ kann nicht davon ablenken, dass sich wohl gerade Ersthörer von Damian Abrahams markantem Gebelle die Nackenhaare föhnen lassen. Natürlich ist ein 80-minütiger Dampfwalzenritt für manche anstrengend. Allerdings wird niemand dazu gezwungen, das Album in einem Durchlauf anzuhören. Gerade durch die Aufteilung in vier Akte lässt sich „David Comes To Life“ bequem in mundgerechte Häppchen zerlegen. Dabei sticht besonders der erste Akt in seiner Hitdichte hervor. „Under My Nose“ ist in seiner konstanten Steigerung mit meilenweitem Abstand Punksong des Jahres, das poppige „The Other Shoe“ ist in seiner Zugänglichkeit unerreicht und der hüpfende Drumbeat von „Turn The Season“ wird Konzerte erbeben lassen.
„David Comes To Life“ ist allerdings trotz des Gekreisches in erster Linie ein Gitarrenalbum. Unterstützt durch die transparente Produktion von Shane Stonebeck und den Einsatz dreier Gitarren klingt die Platte noch druckvoller und raffinierter als der Vorgänger „The Chemistry Of Common Life“, welcher zeitweise immerhin auf 18 Overdubs zurückgriff. Die Arrangements sind bis ins kleinste Detail ausgeschmückt und die zusätzlichen Pferdestärken erlauben Mike Haliechuk, seine Gitarre stets in höchsten Tonlagen flimmern zu lassen. Diese im Punk-Rock ungewöhnliche Technik verleiht Songs wie „A Slanted Tone“ oder „A Little Death“ zusätzliche Schlagkraft und verzaubert selbst schlaffste Ärmchen in donnernde Fäuste. Packender kann eine Rock'n'Roll-Band 2011 nicht klingen.
„David Comes To Life“ ist ein außergewöhnlicher Glücksfall, kommt dieses ambitionierte künstlerische Statement doch aus einer Musikrichtung, die Weitsicht und Offenheit generell misstrauisch beäugt. Sicherlich, dieses Album ist keine Konsensplatte und will es glücklicherweise auch nicht sein. Besonders für traditionellere Hörer wird das raue Gebell von Damian Abraham eine unüberwindbare Hürde bleiben. Doch alle anderen werden sich ähnlich wie David und Veronica im Schluss von „One More Night“ immer wieder von Neuem in dieses überbordende, euphorisierende und dabei nie völlig erfassbare Meisterwerk verlieben: „I want you to grow but never let me go. I'll be a seed in your heart, I'll be with you when you start, to turn and hum again, I'll be a part of your love.“
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