Rezension

Desaparecidos

Payola


Highlights: The Left Is Right // Golden Parachutes // Anonymous
Genre: Punk // Emocore // Emo
Sounds Like: Refused // Jimmy Eat World // At the Drive-In // Against Me! // Bad Religion

VÖ: 19.06.2015

Es ist Zufall, dass das zweite Album der Desaparecidos auf dem – vorläufigen – Tiefpunkt der Griechenlandkrise erscheint. Es hängt sicherlich auch nicht damit zusammen, dass die weltweiten Flüchtlingszahlen auf einem Hochpunkt sind, dass 2015 auf gutem Weg ist, das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen zu werden (und die globale Erwärmung nicht zuletzt auf menschliches Handeln zurückzuführen ist), dass überall in Europa national(istisch)e Tendenzen zunehmen und die Solidarität mit den erwähnten Flüchtlingen zu wünschen übrig lässt, oder dass (nicht nur) die USA immer noch mit alltäglichem Rassismus, Misogynie und so weiter zu kämpfen haben.

Andererseits ist die Veröffentlichung des Albums gerade zu diesem Zeitpunkt vielleicht doch ein Zeichen, dass die Menschheit im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tatsächlich näher der Zukunft ist, die uns von Dystopien versprochen wurde, denn der, die die egalitaristische, optimistische Science-Fiction versprach, jene, in der die Menschen ihre zwischennationalen Konflikte auf diesem Planeten überwunden haben (auch wenn dies zumeist erst nach einer großen Katastrophe geschah). Wie sagte George R.R. Martin dieser Tage in Hamburg: "Ich brauche kein Internet, keinen Terrorismus, keine Klimaerwärmung und all diesen Mist, ich will Kolonien auf dem Mars und Jetpacks und fliegende Autos."

Der Charme von “Read Music/Speak Spanish”, des Debüts der “Vermissten” im Jahr 2002, bestand nicht zuletzt in der Mischung aus intelligentem Geschichtenerzählen, latenter Teen-Angst und politischer Agitation. Conor Oberst war damals als Bright Eyes bereits eine feststehende Größe und das Desaparecidos-Debüt zeigte eine neue Facette, die näher am Emocore denn am Punk war. Wo die Mischung aus Teenangst und Agitation einem 22-Jährigen gut zu Gesicht steht, ist beides bei einem Mittdreißiger potentiell eher peinlich, aber für einen Teil der Mitglieder der späten Generation X oder der frühen Generation Y, der sogenannten Millennials, eher typisch.

Oberst konzentriert sich hier allerdings textlich auf die linke Agitation und hat das Selbstbezogene, potentiell Selbstmitleidige auf ein Minimum reduziert. Exemplarisch für “Payola” stehen Album-Eröffnung und -Abschluss, “The Left Is Right” und “Anonymous”. Auch musikalisch passt “Payola” perfekt zum veröffentlichenden Label Epitaph des Bad-Religion-Gitarristen Brett Gurewitz. Es ist vielfach (z. B. “Slacktivist”) näher am reinen amerikanischen Punk denn am Emocore des Debüts. Der Epitaph-Bezug wirft eine weitere potentielle Kritik am Album auf. Wie glaubhaft ist linke oder egalitaristische Agitation, wenn sie wie im Fall von Oberst, Desaparecidos oder eben Bad Religion von einem halbwegs etablierten Künstler kommt? Zudem lässt sich, wie beim Punk fast üblich, bei aller Sympathie für den Anlass und allen politischen Gemeinsamkeiten, berechtigte Kritik an den Texten üben oder lassen sich zumindest kritisch Einwände erheben.

Natürlich ist die Linke im Recht, doch ist sie leider fast so oft in ihrem Autoritarismus im Unrecht, und leider ist sie manchmal auch nah am rechten Rand des politischen Spektrums. So ist es gut, dass Oberst das Folgende als indirekte Frage formuliert:

If one must die to save the ninety-nine
Maybe it’s justified
The left is right
We’re doomed

In der Tat mag hier eine subtile Zweideutigkeit mitschwingen, die dem hier schreibenden Zweitsprachler entgeht. Die Hymne auf “Anonymous” zum Albumabschluss ist eindeutiger, selbst wenn auch hier selbstironisch die Selbstaufgabe gegenüber den Konsumgütern mitreflektiert wird, aber ganz unironisch ist die Essenz des Textes eben doch:

You can’t stop us
We are Anonymous

Eine Essenz, die fortgesetzt wird durch:

Expect us
We know what all of us know

A half-dozen cops came to seize a laptop
from a sleeping fifteen year old kid
They broke down the door
and discovered some more,
A hundred million exactly like him
So we do not forgive and we do not forget
We are legion, expect us, you’ll see
The righteous will resist,
underfed eat the rich
And the data mines finally come clean
Cause Freedom is not free
And neither is secrecy

Im Jahr 2015 sind dies allerdings Zeilen, die durchaus auch nationalkonservative Verschwörungstheoretiker singen würden. Nicht nur deshalb bleibt die Frage bestehen, welchen Wert hat Punk, welchen Wert hat Agitation von vermutlich relativ gut situierten Künstlern?

Die Antwort ist relativ einfach: Wer, wenn nicht Künstler, die es sich erlauben können, die zudem eine Öffentlichkeit haben, können als Multiplikatoren wirken? Die Slogans des Punk sind simpel, zum Teil sogar gefährlich einfach, aber Simplizität erreicht die Menschen. Sie tut es zumindest, so lange sie die Intelligenz der Hörer nicht beleidigt. Ohne Multiplikatoren dieser Art wären wir in keinem Bereich der Gleichberechtigung so weit gekommen. Ohne sie wären die fast revolutionären Entwicklungen bei der Ehe in Irland und den USA wohl nicht geschehen, wäre in den USA erschwingliche Gesundheitsversorgung weiterhin ein Fremdwort und wäre dem Papst der Klimawandel wahrscheinlich egal; allerdings sind der Papst und die US-Regierung in diesem Satz wohl auch die perfekten Beispiele dafür, dass noch viel zu tun bleibt. Zwischen den Stonewall-Unruhen und der Ehe-Gleichstellung in den USA sind fast auf den Tag genau 46 Jahre vergangen, und die Popkultur hat mit dazu beigetragen, dass es nicht noch einmal 50 Jahre dauerte. Solange es noch große soziale Anliegen gibt, brauchen wir die Agitation durch Popkünstler, selbst wenn sie nicht die glaubhaftesten Prediger sind oder bei genauerem Hinschauen sogar heuchlerisch erscheinen.

Wenn all dies gesagt ist, wenn die linke Naivität bestaunt ist, wenn sich gefragt wurde, ob die Desaparecidos hier nicht doch deutlich selbstironischer agieren, als es auf den ersten Blick erscheint, dann muss festgestellt werden, dass “Payola” doch in aller erster Linie ein Album ist, das einfach nur Spaß macht. “Payola” ist simple Unterhaltung, ohne sich blöd vorzukommen, und beruhigt gleichzeitig das politische Gewissen. Musikalisch geradeaus und mit den nötigen Slogans zum Mitgröhlen liefern Conor Oberst und seine aktuelle Hauptband genau das, was von einem Rock-Album mit Punk-Attitüde erwartet wird. Da ist es dann eher ein Bonus, dass die musikalischen Fähigkeiten aller Beteiligten über ein simples 1-2-3 hinausgeht, und die Verbindung zwischen Bright-Eyes’schem Folk-Hintergrund, Punk, Garage-Rock und Emocore plus Obersts Gesang der Platte einen eigenen Klang verleiht.

Oliver Bothe

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