Konzertbericht
Martin Kohlstedt
Ein bisschen surreal ist dieser Ort schon. Prunkvolle Wandgemälde, Stuck und immense Kronleuchter schicken einen auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Die Stadthalle erinnert an Wuppertal in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Stadt noch eines der größten Wirtschaftszenten Europas war und die dortige Textilindustrie die Großindustriellen in die Stadt lockte. Scheinbar genau der richtige Ort, um das herbstliche Schmuddelwetter auszublenden und sich ganz der Musik hinzugeben.
Pünktlich um 20 Uhr schließen sich die Türen und es passiert erstmal – nichts. Auf der Bühne stehen ein Flügel, ein Fender Rhodes und ein Synthesizer. Das Publikum wird unruhig. Dann nach circa 15 Minuten spotet der Scheinwerfer Martin Kohlstedt, wie er die Bühne betritt und sich an den Flügel setzt. Die nächsten 20 Minuten kann man sich ganz der atmosphärischen Musik hingeben, wie sie einen mitnimmt auf eine Reise ohne wirkliches Ziel. Anfangs nur mit Klavier, doch nach und nach kommen immer mehr elektronische Elemente hinzu. Alles andere ist vergessen, man ist ganz da, in diesem Raum und umhüllt von Klängen. Vier Stücke, die sich ineinander schmiegen, mischen, ergänzen und wiederholt werden – Martin Kohlstedts modulare Komposition zeigt sich hier in ihrer direktesten Art. "Richtig cool. Heute stimmt alles," kommentiert Kohlstedt den Einstieg in den Abend und ist ebenfalls sichtlich überwältigt von dem Ort, der Stimmung und dem großen Interesse.
Wie auch bei seinen anderen Konzerten ist heute alles improvisiert. Es gibt keine Setlist, nur seine musikalischen Phrasen, die er immer wieder versucht neu aneinanderzureihen. Sein Ziel ist es, so intuitiv zu spielen wie, als er mit dem Klavierspiel angefangen hat. Damals, als das Klavier dem 12-jährigen Kohlstedt ein Ort war, um zur Ruhe zu kommen. Das Gehirn soll überlistet werden in seinem Bedürfnis, Struktur reinzubringen und Bekanntes zu reproduzieren. Rein klassische Töne wechseln sich an diesem Abend ab mit elektronischen Elementen. Ein satter Tiefenbass massiert den Körper bis ins Innerste, nur um in nächsten Moment das Erlebte nachklingen zu lassen. Die Akustik ist super, einzig die Lichter passen nicht immer in das Konzept, wenn sie zu sehr von den Klängen ablenken anstatt den Klang visuell zu unterstützen.
Dieser Abend ist ganz davon bestimmt, einem Künstler beim Experimentieren und Erschaffen von (neuen) Klangkompositionen zuzuhören und zuzuschauen. Das Publikum ist Teil dieses Prozesses und dankt es mit einer intimen und konzentrierten Stille, wie ich es lang nicht bei einem Konzert erlebt habe. Nach guten 90 Minuten landet man sanft wieder im Alltag – erfrischt und irgendwie neu belebt.