Festival-Nachbericht

Watt En Schlick Fest 2017


Über den Wolken, sang Reinhard Mey einst, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Hinter dem Deich – das lässt sich nach dem Watt En Schlick Fest 2017 sagen – ist sie es. Hier machen Alt-Punks auf dem iPad Musik, Literaten auf der Bühne Liegestütze und eine ganze Riege österreichischer Musiker richtig Alarm. Dazwischen: Bis zu 5000 tiefenentspannte Besucher.

Die Sielstraße in Dangast ist ein schmaler, geklinkerter Weg. Zur Linken wie zur Rechten erstrecken sich Maisfelder, deren Früchte den Rindern das nötige Futter liefern. Wäre da nicht die schallerfüllte Luft des angrenzenden Hafens, könnte man glatt vergessen, dass hier gerade ein Festival stattfindet. Zwischen den hohen Maisstauden haben sich die Camper auf zwei Weiden niedergelassen. Am Freitagnachmittag machen sie sich mit Sonnenbrille und Regencape auf den kurzen Weg in Richtung Festivalgelände. Wer das Wetter in der Nordseeregion kennt, weiß, dass man hier für alle Fälle plant. Fürs Erste können die Capes im Rucksack bleiben, denn zum Auftakt des "Watt En Schlick Festes 2017" herrscht strahlender Sonnenschein. Der junge Musiker Saint gibt sich alle Mühe, das Publikum am Strand von der großen Hauptbühne aus mitzureißen. Die Präsenz hat er, daran besteht kein Zweifel, der Zuspruch ist dennoch etwas mau. Das Alternativangebot ist groß, neben Essen und Trinken lockt die Natur: Im Sand buddeln die Kinder, einige Ältere wagen sich in den Schlick.

Ein Stückchen weiter beginnt Christiane Rösinger kurz darauf ihr Konzert. Das rote Zirkuszelt bietet nicht nur Schutz bei Regen, sondern auch eine recht intime Atmosphäre. Während der Sound fast aller Acts hier für den kleinen Platz beinahe zu mächtig ist, kommen die Lesungen voll zum Tragen, wie bei Studio Braun. Das Trio tritt in hellen Anzügen mit einer halben Stunde Verspätung vor das Publikum, Heinz Strunk macht zum Aufwärmen zunächst 20 Liegestütze. Anschließend erzählen er und seine Gefährten Jacques Palminger und Rocko Schamoni Anekdoten aus der Vergangenheit, mal mehr, mal weniger dadaistisch. Der Headliner des Freitags ist Jamie Lidell, zu dessen Auftritt der Strand bereits im Dunkeln liegt. Es wird empfindlich kühl, aber der angekündigte Regen bleibt aus.

Das Watt En Schlick Fest oder WES, wie es sich abkürzt, ist ein Festival für Charaktere, die sich selbst nicht zu ernst nehmen – aber auch nichts auf die leichte Schulter. Vollblutkünstler wie Schorsch Kamerun stehen in der Tradition der linksliberalen Kulturgeschichte des Ortes. Der Sänger der Goldenen Zitronen unterhält sich am Sonnabendmittag mit Helge Tramsen über seine Herkunft aus dem Norddeutschland zu einer Zeit, als Alt-Nazis mit einem autoritären Erziehungsstil Freunde von ihm in den Selbstmord getrieben haben. Einer von ihnen hat Kamerun ein Lied gewidmet. Als "Instrument" hat er ein iPad mit Gratis-App dabei, so gar nicht Rock 'n Roll, wie Schorsch Kamerun meint. Und trotzdem irgendwie Punk, Anno 2017 halt.


Sophia Kennedy auf der Floß-Bühne // Foto-Credit: Mischa Karth

Das WES ist kein reines Musikfestival, sondern ein Kunstfestival. Keines für Weltverbesserer, aber für jene, die ihren Müll wegräumen und lieber Bio- als Massenfleisch essen. Musik und Kunst vereinen sich in Menschen wie Flowin Immo, der in jedem der vier Festivaljahre auf der Bühne stand. Der Bremer lässt sich bei seinen Auftritten durch das Publikum inspirieren und jongliert virtuos mit ihm zugespielten Worten. Eine kleine Spitze gegen Deichbrand und Hurricane, die Platzhirsche unter den nordwestdeutschen Festivals, ist darunter, natürlich findet sie Anklang an einem Ort, der mit 5000 Zuschauern belebt, aber trotzdem intim ist. Neu ist 2017 ein Floß, auf dem unter anderem Sophia Kennedy im ultraengen Britney-Spears-Gedächtnisanzug auftritt. OK Kid auf der Hauptbühne repräsentieren indes den Durchschnittssound, der das Wochenende über vorherrscht: konsensfähig. Wegen einzelner Acts ist kaum jemand hergekommen, was zählt, ist das Gesamtpaket. Darin gibt?s natürlich ein wenig Ausgefalleneres – wie bei der tollen österreichischen Rapperin Mavi Phoenix –, im Großen und Ganzen aber gibt es liebevoll gemachte Musik/Kunst, die keinen abschreckt. Abschreckend ist am Sonnabend bloß die Gewitterfront, die von Ostfriesland her aufzieht. Die Veranstalter sehen sich gezwungen, das Gelände räumen zu lassen. Das Unwetter bleibt glücklicherweise aus. Nach einer Stunde Pause geht es mit Bilderbuch weiter – und anschließend bis ins Morgengrauen.


Die Heiterkeit // Foto-Credit: Mischa Karth

Auch wenn Joy Denalane am Sonntag formal Headliner ist, so liefern die inoffiziellen Meisterschaften im Schlickrutschen doch das größte Spektakel. Mehr als 1000 Menschen verfolgen den Wettkampf, bei dem es darum geht, möglichst schnell mit einem Wattschlitten zwei Bahnen zurückzulegen. Nach einer Stunde und einer ganzen Reihe von Läufen sind die Sieger bei den Männern und den Frauen ermittelt und alle Teilnehmer bis zum Hals mit Schlamm verschmiert. Die Höchste Eisenbahn warten extra noch ein paar Minuten, bis der Applaus für die Schlicksportler verklungen ist und haben dann alle Ohren für sich. Bei Die Heiterkeit im Zelt und Jordan Prince auf der Palette ist dann deutlich weniger los, offenbar hat sich schon ein guter Teil des Publikums auf den Heimweg gemacht. Richtig laut wird es dafür noch einmal bei Moop Mama.

Weitere Bilder gibt es in unserem Fotoalbum bei Facebook.

Mischa Karth

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