Festival-Nachbericht

Reeperbahn Festival


Fun Fact #3882: Ein nicht lektürefauler Mensch kann im Leben ca. 5000 Bücher lesen. An sich Stoff für eine ordentliche Bibliothek, aber gemessen an der totalen Anzahl existierender und der eher subjektiven Anzahl lesenswerter Bücher eine fast schon verschwindend geringe Zahl. Wer sich also auf ein Buch einlässt, das im Endeffekt eventuell gar nicht gefällt, liest gleichzeitig vielleicht 10 andere Bücher nicht und könnte das Lesen aus Verzweiflung über diesen Umstand fast gleich aufgeben – tut aber Gott sei Dank niemand.

Ähnlich verhält es sich ja eigentlich beim Reeperbahnfestival: 180 Bands spielen 2010, von denen der Durchschnittsbesucher vielleicht 15 sehen kann, eher weniger, wenn er nicht gerade zwischen zwei Gigs den Rekord im Hundertmeterlauf brechen und auch mal gemütlich mit Freunden ein Bier trinken will. Wer zu einem gegebenen Zeitpunkt schüchterne Singer-Songwriter in der Hasenschaukel schaut, kann gleichzeitig weder im Molotow rocken noch im Uebel & Gefährlich tanzen.

Und doch ist gerade dieses Angebot, das man fast Überangebot nennen könnte, nicht Problem, sondern Reiz des Reeperbahnfestivals, da es eben wie kein anderes die Chance bietet, sich einfach treiben zu lassen, weil immer und überall etwas Tolles entdeckt werden kann. Wer keine Lust mehr auf den Stress seines zuvor akribisch ausgeklügelten Plans hat, genießt einfach einen weiteren Gig lang Gemütlichkeit und Atmosphäre des Imperial Theaters, wer auf dem Weg über's Heiligengeistfeld merkt, dass er noch nie in den Fliegenden Bauten war, setzt sich spontan zum Gig von Kristofer Aström oder Donovan hinein.

Besonders dieses Jahr klappte dies erstaunlich gut, weil die Macher des Reeperbahnfestivals einen auf den ersten Blick vielleicht kühnen Schritt gewagt haben: Auf wirklich große Namen zu verzichten. Wo 2009 noch die Editors, Deichkind oder Emiliana Torrini für lange Schlangen vor manchen Clubs sorgten, war dieses Jahr so gut wie jeder Laden angenehm ge-, aber nie überfüllt. Die Reihe der Locations wurde zudem um die eine oder andere ergänzt, die sicherlich nicht jeden Tag Konzerte beheimatet: Den Pearls Table Dance Club etwa, in dem verschiedene Songwriter gesittet und vollständig bekleidet die Gitarre zückten, oder die St. Pauli Kirche, in der keine Gospeln und Choräle, sondern Folk vorgetragen wurde. Laut Veranstalter kamen trotz des Verzichts auf Headliner wie im Vorjahr ca 17.000 Besucher, daher kann man wohl nur sagen: Konzept voll und ganz aufgegangen.

Jeder Rückblick, der sich auf die Bands konzentriert, kann aufgrund des Prinzips des Festivals natürlich nur fragmentarisch bleiben. Ein Tagesfazit, das beispielsweise tolle Auftritte der hibbeligen Wolf Parade, der experimentell-herausfordernden PVT und der nimmermüden Elektropopper FM Belfast beinhaltet, zeigt jedoch schon den Abwechlungsreichtum des Festivals. Ansonsten kann konstatiert werden: Frank Turner ist auch solo eine Animiersau vor den Herrn, Deer Tick eine fantastisch krachige Folkband und das Young Rebel Set eine sympathische Truppe mit tollen Melodien, deren Sänger wie Knut Hansen aussieht. Andere Stimmen wissen von gnadenloser Lautstärke bei Earl Greyhound, wunderschönen Auftritten der belgischen Neuentdeckung Isbells oder Sex & Schweiß bei Royal Republic, dem neuesten heißen Scheiß aus Schweden, zu berichten. Sprich: Den einen oder anderen sehenswerten Auftritt hat jeder verpasst – aber eben auch viele tolle Konzerte miterlebt und hoffentlich auch den einen oder anderen neuen Lieblingsact kennengelernt. Man mag sich auf ersteres konzentrieren – aber sein Bücherregel verbrennt schließlich auch niemand.

Jan Martens

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