Festival-Nachbericht

Melt! Festival


Nein, das Melt! findet nicht in Berlin statt, eigentlich noch nicht mal so wirklich in der Nähe und doch hat man das Gefühl, jedes Jahr ein Stückchen mehr, die geballte Berliner Hipster-, Touri-, Hedo- und Partyszene um die Ohren geballert zu bekommen – in fünffacher Dosis, mindestens.

Doch erstmal von vorne. Das Melt! ist und bleibt subjektiv empfunden ein alljährlicher Treffpunkt für Freunde, die man lange nicht gesehen hat, es bedeutet, mit jedem Jahr mehr, ein bisschen nach Hause zu kommen, Rituale zu verfestigen und sich am Sonntagabend bereits aufs nächste Jahr zu freuen.

Und was hat sich so verändert? Objektiv stand das diesjährige Melt! mehr noch als sonst im Zeichen des Umweltschutzes. Mit Pedalkraft betriebene Handyladestationen, Bio-Food und auf Pfand verzichten, um Burkina Faso zu helfen – jaja, auch in Sachen Ökologie ist das Melt! ganz am Puls der Zeit.

Das Line-Up lässt in der 14. Version des Festivals erneut kaum Wünsche offen, wenn es auf dem Papier vielleicht auch etwas schwächer als in den Vorjahren ist. Wer hier klagt, klagt jedoch auf hohem Niveau. Ein viel größeres Problem ist hingegen der dichte Timetable, der jedes Jahr eine besondere Logistik von jedem Festivalbesucher verlangt, um möglichst viele Acts mitnehmen zu können. Hat man diese Planung erstmal abgeschlossen, kann man die 72 Stunden Festival-Spaß starten, die dann, wie jedes Jahr, vor allem eine Weisheit immer wieder bestätigen: Es kommt immer anders, als man denkt.


Der Freitag

Und wer später möglichst viel mitnehmen will, verzichtet am Freitag auf ein paar obligatorische Acts. Die durchweg guten Auftritte (laut Augenzeugen!) von We Have Band und Jamie Woon fielen dieser Regelung zum Opfer und so startete der Freitag direkt mit der ersten schwierigen Entscheidung: Fritz Kalkbrenner oder Nicolas Jaar? Wer sich hier für das Minimalismus-Genie Jaar entscheidet, darf eine perfekte Zeit auf dem Desperados Beach erleben und manch einer meint sogar herausgehört zu haben, dass Jaar live noch besser sei als auf "Space Is The Only Noise" – eine gewagte These am Ende eines fabelhaft betörenden Sets, das den Titel der Platte fantastisch live zu inszenieren vermag.

FM Belfast schaffen es anschließend, eine wilde Horde von Menschen vor der Gemini mit ihrem verblüffend partytauglichen Elektropop, einer gesunden Hippie-Attitüde und einem verrückten Drummer mit beachtlichen Rap-Skills ordentlich zum Ausflippen zu bringen und sind das erste unerwartete Highlight des Wochenendes.

Ein Negativhighlight hingegen sind die Drums. Nicht etwa wegen eines schwachen Auftritts, sondern viel mehr, weil sie an diesem Tag auf der Mainstage verloren und deplatziert wirken und ihr Rock'n'Roll-Set bei den paar Leuten, die sich vor die Bühne verlaufen haben, nicht wirklich zünden will – vom Hit "Let's Go Surfing" mal abgesehen. Das Melt!-Publikum in diesem Jahr ist hitgeiler denn je.

Dementsprechend wird der schwache und emotionslose Auftritt von Robyn, der großen Lady des Elektropop, vergleichsweise frenetisch beklatscht. Verständnislos ob des Eindrucks der letzten zwei Stunden geht es auf zum Kontrastprogramm von Iron & Wine. Das Zelt ist heiß und vergleichsweise leer, was mittlerweile keine Überraschung mehr ist. Die Angst, Sam Beams Folkmusik könnte der viel zu früh eintretenden Müdigkeit einen Schub verleihen, erweist sich als unnötig. Im Gegenteil – Beam liefert inklusive Bart und Band ein lupenreines Rock-Set ab und weiß wirklich zu begeistern. Die paar Menschen, die sich ins Zelt verirrt haben, scheinen schon jetzt – am Freitag – nach Gitarrenmusik zu lechzen.

Ganz anders hingegen die Massen, die anschließend die Mainstage füllen. Kalkbrenner ruft und seine Jünger folgen. Doch beim erstaunlich hitfreien Kalkbrenner-Set bemerkt man eine Sehnsucht nach Bass und Hits, die, beide in gleichen Maßen, dazu einladen, alle gestauten Emotionen herauszulassen und den Wochenend-Hedonisten endgültig heraus zu lassen. Fake Blood, aber vor allem Boys Noize nehmen diese Stimmung auf und letztere liefern als letzter Act auf der Mainstage trotz relativ monotonen Sets einen absoluten Wahnsinnsauftritt ab – inklusive Feuerwerk, tanzenden Menschen und natürlich jeder Menge Bass. Es ist nun halb sechs am morgen und Gui Boratto muss leider ausfallen. Die Müdigkeit hat gesiegt.


Der Samstag

Der Samstag bringt zunächst eines: eine Wahnsinnshitze. Und wer dann am Nachmittag in praller Hitze eineinhalb Stunden vor dem letzten funktionierenden Geldautomaten (zwei waren es insgesamt) auf dem Festivalgelände warten darf, verpasst dank dicken Schädels und Übelkeit die fest eingeplanten Dananananaykroyd und These New Puritans. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Beady Eye fügen dann vor gruselig leerer Kulisse und mit relativ schmucklosem Auftritt das nächste Puzzleteil in die These, die da lautet: das Melt! wird mehr und mehr das Berlin der Festivals – ein Easyjetset-Hedo-Techno-Erlebnis.

Als um 22.30 Uhr Mike Skinner zum vielleicht letzten mal eine deutsche Bühne betritt, sind zunächst mal alle Thesen und Theorien – mit Verlaub – scheißegal. The Streets spielen sich gut gelaunt durch "Original Pirate Material" und das Beste der anderen Alben (mit Ausnahme "The Hardest Way To Make An Easy Living") und sind zum vielleicht ersten und letzten mal an diesem Wochenende so etwas wie der gemeinsame Nenner der Massen. Dem tollen Auftritt ist es geschuldet, dass Skinners in feinstem Cockney dargebotenen Worte "I think, this was the last time we played in Germany" nicht allzu sehr schmerzen und ein versöhnliches Ende mit dem Kapitel The Streets erlauben.

Mehr Brit-Musik gibt es anschließend bei den Editors mit einer handwerklich perfekten Leistung. Doch irgendwie ist gerade nicht die Zeit für den Indie-Wave-Pop der Jungs um Tom Smith. DAF oder Metronomy wären vielleicht die bessere Alternative gewesen.

Um einer weiteren Fehlentscheidung vorzubeugen, geht es dann zu K.I.Z. ins Zelt – da kann man nichts falsch machen. Und tatsächlich – der Anarcho-Rap von Nico, Tarek und Maxim ist hier und jetzt genau das Richtige. Das Zelt platzt aus allen Nähten und die Stimmung ist auf dem Höhepunkt. Mit einer Adaption des jetzt schon legendären Splash-Aufttritts eine Woche zuvor auf der Hauptbühne bringen die Jungs die Menge zum Ausrasten und zum ersten mal hat man das Gefühl, dass es hier nicht nur um oberflächliche Freude für den Moment geht – und das bei dieser Band. Irgendwie pervers!

Total ausgelaugt gibt es dann noch die Crystal Castles auf der Main Stage, die zwar ordentlich loslegen, aber für die insgesamt im Publikum nicht mehr genug Energiereserven übrig sind. Da hinten geht auch wieder die Sonne auf. Es wird Zeit.


Fotos (von links oben im Uhrzeigersinn): Beady Eye, The Streets, José González, The Drums – Photo Credits: Florian Tomaszewski


Der Sonntag

Der Sonntag macht den Klimaterror perfekt. Gefühlte 20°C niedrigere Temperaturen und nonstop strömender Regen vermasseln so ein bisschen die gute Laune und damit auch die Stimmung für José González. Junip in der Nacht muss reichen. Die Errors erhalten somit die Ehre, die erste Band des letzten Tages zu sein und das vollkommen zurecht. So energetisch, so nach vorne und ehrlich dieser Auftritt und diese Musik – ein Anker im Meer der oberflächlichen Freude, das bei den Bag Raiders wieder seine Wogen schlägt. Ein nichtssagender Auftritt einer überschätzten Band, zu dem alle ausrasten, ist das Letzte, was man bei diesem Scheißwetter gebrauchen kann. Es muss an mir liegen. Also erstmal Mittag machen mit 'nem Handbrot und einem Bier.

Dann auf zu Plan B. Doch die werden von den ätzenden Frittenbude inklusive Egotronic-Zusatz vertreten und dürfen ihren pubertären linken Nonsense von der Main Stage ins Publikum schleudern. Wir werden nass. Und gehen.

Die Nässe und die Kälte sprechen klar für die überdachte Gemini. Zumal hier jetzt das DJ-Superteam DJ Mehdi und Riton a.k.a. Carte Blanche spielen – und siegen. Mit einem unfassbar überragenden, das Wetter und die Kälte vergessen machenden Set und einem Wahnsinns-Remix von M.I.A.s "Xxxo" übertreffen die Ed-Banger-Jungs alle Erwartungen. Das gilt im übrigen auch für die Berliner von Bodi Bill, die mit ihrem sehr songorientierten Elektropop allerdings gegen ein Dauerstimmengewusel ankämpfen müssen. Schade für die Band, die ein wirklich gelungenes Set spielt – vermutlich einfach zu wenig Bass.

Bevor Junip das Wochenende dann relativ passend ausklingen lassen, schafft es Jarvis Cocker mit Pulp und seinem so niederschmetternden Charme, nicht nur die paar hundert (!) Anwesenden glücklich zu machen, sondern auch den Regen davon zu überzeugen, endlich seinen Dienst einzustellen. "Hello Melt!, we are Pulp", sagt er, als müsse er es wirklich erklären – wahrscheinlich musste er es wirklich – und spricht in einem tiefsten britischen Englisch das "u" fast wie ein deutsches "u" aus. Wahnsinn. Wie im übrigen alles, was sich in den nächsten 1 1/2 Stunden abspielt. Jarvis Cocker ist ein Entertainer, ein Gentleman, ein unbeholfen tanzender Popintellektueller, der die größten Hits seiner Band darbietet, als müsse er dem Rock auf diesem Festival den Arsch retten. Und das muss er auch. Als die letzten Töne von "Common People" verklingen, wird klar: Vielleicht hat das Melt! doch eine Chance, den Weg zur verdrogt-hedonistischen Oberflächlichkeit zu stoppen und immer einen Gegenpart zu dieser Bewegung zu bieten. Das hat bisher immer geklappt, dieses Jahr am wenigsten, doch Pulp lassen ganz zum Ende nochmal hoffen, dass das in diesem Jahr eine besondere Ausnahme war.

Andreas Peters

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