Festival-Nachbericht

Hurricane Festival


Vier Bühnen, achtzig Bands, 75.000 Zuschauer. Die Zahlen lesen sich wie naive Eigenwerbung des Veranstalters. Und doch sind sie vor allem eines: Beweis dafür, dass das Hurricane endgültig in der Champions League der Festivals angekommen ist. Nicht nur die Dimensionen entsprechen höchsten Weihen, auch das Line-Up lässt anno 2011 wenig Wünsche übrig. Selten ist das Mittelfeld so stark besetzt und die stilistische Vielfalt bei norddeutschlands größtem Musikfestival so ausgeprägt gewesen. Aber natürlich führt dies wie immer zu Gewissensfragen...

Portishead vs. Jimmy Eat World

Portishead geben sich bereits am Freitag Abend die Ehre. Als Band, die sich in Deutschland nur sporadisch blicken lässt, sind die Erwartungen an die Briten hoch. Viele träumen von der perfekten Festival-Performance zu melancholischen Klängen – und das gleich zu Beginn des Wochenendes. Zu Portishead sterben? Wer kann sich das nicht vorstellen?

Doch das Bild von Sängerin Beth Gibbons ist an diesem Abend ein anderes. Völlig in sich gekehrt singt Gibbons, mal auf den Monitoren hockend, dann mit dem Rücken zum Publikum stehend. Fast wirkt es, als müsse sich die Sängerin zu ihrem Auftritt quälen. Keinerlei Interaktion, noch dazu die wenig spektakuläre Musik. Für das Laufpublikum ist es schwierig bis unmöglich, in dieses Konzert zu finden. Und da parallel Jimmy Eat World spielen, ist die Entscheidung für manchen schnell gefallen. Dennoch, Portishead steigern sich. Sie lassen die Musik sprechen, allen Unlänglichkeiten zum Trotz. Und spätestens "Roads" bewirkt dann so etwas wie eine Regung beim Publikum. Genau wie bei "Wandering Star" zaubert Gibbons doch noch ein wenig ihrer zerbrechlichen Magie in den norddeutschen Abendhimmel. Kurze Zeit später beweisen Portishead zudem mit "Machine Gun", dass sie auch hart können.


Psychedelischer Rausch

Dass direkt im Anschluss Arcade Fire auftreten, geht nur bei einem Festival. Die Kanadier, die 2007 noch einen undankbaren Slot am frühen Abend hatten, sind durch ihr drittes Album "The Suburbs" zu einer der ganz großen Bands gereift: zumindest musikalisch. Trotz Grammys lässt der wirkliche Durchbruch in Deutschland auf sich warten. An der Live-Qualität kann dies nicht liegen. Arcade Fire spielen das Konzert des Wochenendes. Hochkonzentriert, fehlerfrei und ungemein spielfreudig zieht das Kollektiv um Win Butler alle Register. Zu alten Dokumentarfilm-Aufnahmen amerikanischer Vorstädte rocken Arcade Fire das Hurricane. Eine rasante Mischung aus den Klassikern ("Haiti", "Neighborhood #1-3") und den mitreißenden Tracks des jüngsten Albums ("Ready To Start", "Rococo") steht auf der Setlist. Obwohl die Musik eher zum Genießen als zum Tanzen geeignet ist, hält es beim Brett "Month of May" keinen mehr. Wie spät es ist? Kurz vor Circle Pit.

Während "Rebellion (Lies)" und "Sprawl II" noch als Zugabe erklingen, wird wenige Meter entfernt bereits der Late-Night-Act erwartet: The Chemical Brothers gastieren am Eichenring. Gewissermaßen im Laufschritt geht es daher zur Blue Stage, die wie schon 2008 zu einer psychedelischen Leuchtwand umfunktioniert worden ist. Riesige Gestalten wabern über die LEDs, das Duo aus Manchester ist hinter seinen Mischpulten nur zu erahnen. Aber die brutal laute Musik spricht für sich selbst. Wer Kraftreserven hat, tanzt sich die letzte Energie aus dem Leib, der Rest gibt sich schweigend dem audiovisuellen Rausch hin. So endet der erste Festivaltag mit der Erkenntnis: Besser kann es nicht mehr werden.


Slow Start

Im Tageslicht des Samstags wird dann einiges deutlich, was die Dunkelheit des Vorabends freundlicherweise verschwiegen hatte: Das Camping-Areal ist bereits zu einer bewohnten Müllkippe verkommen und das Festivalgelände präsentiert sich als ein einziges Meer aus Fressbuden und aggressiver Werbung. Die Champions League hat eben auch ihre Schattenseiten.

Es dauert einige Zeit, bis der Festivalsamstag auf Touren kommt, aber dann spielen Gogol Bordello gleichzeitig mit The Sounds. Beide haben sich in den letzten Jahren zu echten Größen entwickelt, wenn es darum geht, unkomplizierten Spaß musikalisch frei Haus zu liefern. Sounds-Sängerin Maja hat sich wieder einmal in ein äußerst figurbetontes Dress geworfen und räkelt sich zu dem schwedischen Indie-Rock ihrer Band auf der Bühne, als gäbe es kein morgen mehr. Doch The Sounds kommen an, wie sollte es auch anders sein. Die leicht billige Attitüde bügeln die tollen Songs und der überzeugende Gesang Majas mehr als aus.

Bis zum Auftritt von Kasabian vertreiben sich die Anwesenden ihre Zeit mit Two Door Cinema Club aus Irland. Die Iren haben einen erstaunlich großen Fanclub an den Start – sprich, in den ersten Block – gebracht. Ob dies am sympathischen Rock oder am sympathischen Look von Rotschopf Alex Trimble liegt, weiß nur der Eichenring. Parallel zu TDCC beginnt Lykke Li ihr Set im Zelt. Am Einlass zur Red Stage wird die grundsätzliche Zelt-Problematik des Vorjahres deutlich: Die begrenzte Kapazität einer geschlossenen Bühne verträgt sich nicht mit der theoretisch unbegrenzten Zahl an Zuschauern. Dutzende, denen der Einlass nicht mehr gewährt wurde, klettern über die Absperrungen. Sie können nur mit Mühe von den Securities in Schach gehalten werden. So heißt es draußen bleiben und das Konzert über eine Videoleinwand verfolgen. Blöd nur, dass es keinen Sound gibt.


Feuer und andere Desaster

Der kommt kurz darauf von Kasabian, die dem Publikum im empfindlich kühlen Juni-Abend ordentlich einheizen: Wie sollte es auch anders sein bei der erfolgreichsten Single "Fire"? Klassisches Bühnenbild und ein ordentlich betrunkener Sänger Tom Meighan – "Hamburg, come on!" – tun ihr übriges, um ein richtiges Rock-Konzert an den Start zu bringen. Wem trotzdem noch kalt ist, für den wird das Zelt zum willkommenen Hafen. Nachdem Lykke Li ihr Set beendet hat, werden dort wieder Besucher aufgenommen. I Am Kloot spielen ein clubartiges Konzert, das mit seinem jazzigen Indie "die Wärme in den Herzen neu entfacht" – so würde es die Band wahrscheinlich mit eigenen Worten ausdrücken. Doch Sänger John Bramwell ist erfahren – und britisch – genug, um zu erkennen, dass es da noch so eine andere Seite gibt. Immer wieder kündigt er die Songs an mit den Worten "This is a song about ... and disaster." Und so steht der Auftritt im Zeichen des Unglücks, wird aber selbst zu keinem solchen. Im Gegenteil: musikalisch auf der Höhe und mit tatkräftiger Unterstützung durch Klavier und Saxofon präsentiert sich das Trio aus Manchester in Höchstform.


Böses Erwachen

Der Start in den Sonntag beginnt für viele Festivalbesucher ernüchternd. Große Regenwolken haben sich über Nacht über dem Gelände zusammengezogen und machen nicht den Eindruck, sich so bald aufzulösen oder davonzuziehen. Hektischer Zeltabbau und eine frühe Fahrt nach Hause sind für viele Besucher die logische Konsequenz, zumindest für jene, die nicht darauf vorbereitet waren. Nicht ein einziger Besucher auf dem Gelände läuft im T-Shirt herum, stattdessen kann man in vielen Varianten die obligatorischen Konstruktionen aus Gaffertape und Müllbeuteln bewundern. Wer es geschafft hat, sich davon nicht die Stimmung verderben zu lassen, bekommt einen mit guten Acts vollgepackten Tag. Bei Willam Fitzsimmons haben allerdings viele nur die Möglichkeit, von draußen einen Blick in das Zelt zu werfen, in dem Fitzsimmons auftritt. Zumindest das ist möglich, da der Veranstalter auf die Idee gekommen ist, das Zelt vor dem Eingangsbereich zu öffnen. Das seelige Lächeln der vor dem Zaun ausharrenden Besuchern zeigt schnell, dass diese Maßnahme richtig war, denn die Show des sensiblen Singer-Songwriters aus Illinois ist einer der schönsten Auftritte des Sonntags. Auch der Wettergott lässt sich davon erweichen und der Regen gibt endlich auf. Der anschließende Auftritt der Band of Horses auf der Blue Stage ist ebenfalls auf hohem Niveau und spätestens mit dem großartigen "Is There A Ghost" ist auch der letzte Zweifler von den Qualitäten dieser Band restlos überzeugt. Dass nebenan bereits Flogging Molly angefangen haben und hier mit The Wombats die nächste tolle Indiecombo an den Start geht, ist ein weiterer Verweis auf die starke Leistungsdichte des diesjährigen Line-Ups.


Pelle, Affen vs. Aale und Dave

Vor der Green Stage ist es am späten Nachmittag schon ziemlich voll, und das zurecht. Die Show der Schweden namens The Hives ist wie gewohnt extrem unterhaltsam und Pelle Almqvist ist und bleibt die größte Rampensau auf diesem Planeten. Dabei werden vor allem die alten Songs richtig abgefeiert, während die neueren nur eine durchschnittliche Selbstkopie darstellen. Was folgt, ist eine der schwersten Entscheidungen des Tages. Während auf der großen Bühne die Artic Monkeys ihr viertes Album vorstellen wollen, lassen sich im Zelt die Eels mitsamt völlig veränderter Show bestaunen. Mark Oliver Everett hat diesmal zahlreiche professionelle Musiker um sich gescharrt und jammt sich auf sehr originelle Weise durch sein Schaffenswerk. Die Bühnenpräsenz ist dabei unglaublich stark und so ist der Auftritt nach einer Stunde viel zu schnell vorbei. Den Abschluss des Hurricanes bilden die Foo Fighters, die ein müdes Publikum ein letztes Mal zum Tanzen bringen. Dave Grohl hat seine Band inzwischen um Pat Smear erweitert, der schon bei Nirvana als zweiter Gitarrist an seiner Seite gespielt hat, wodurch der Rock der Band noch eine Spur härter geworden ist. Nachdem die letzte Zeile gelungen und der letzte Tropfen Schweiß geflossen ist, kann sich das tapfere Publikum mit der Ankündigung der Ärzte und Blink 182s für 2012 darüber hinwegtrösten, dass dieses schöne Festival jetzt leider schon sein Ende gefunden hat.

Mischa Karth

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