Rezension

Tori Amos

Night Of Hunters


Highlights: Cactus Practice // Star Whisperer // Job’s Coffin // Your Ghost // Edge Of The Moon // Night Of Hunters // Seven Sisters
Genre: Folk // Klassik // Pop // Barock
Sounds Like: Joanna Newsom // Kronos Quartet // Baby Dee // The Unthanks // The Owl Service // Claude Debussy // Robert Schumann // Marissa Nadler // Florence And The Machine // Iamamiwhoami

VÖ: 16.09.2011

Die Liebesbeziehung zwischen Fans und Musik nahm im Fall Tori Amos in den letzten Jahren Charakteristiken einer in die Jahre gekommenen Ehe an. Gewöhnung trat ein, die Faszination am Gegenüber ging zurück und man wurde unaufmerksam. Spannend waren Amos' Alben der letzten zehn Jahre nicht immer, und neue Künstler und Künstlerinnen verlockten zum „Fremd“-Hören mit Musik, die das an Tori Amos' Schaffen so Begeisternde mit neuen Reizen, mit Ideen jenseits des von Tori Bekannten verbindet. Wer hätte gedacht, dass gerade die alte Tante Deutsche Grammophon es schaffen würde, dass Tori Amos ein Album veröffentlicht, das nicht nur die alte Verzückung wiederherstellt, sondern sogar den Eindruck erweckt, Amos habe sich von Künstlern wie Joanna Newsom herausgefordert gefühlt und den Versuch gestartet, deren Schaffen zu übertreffen? Zum Gelingen tragen auch die Einbindung von Tochter (Natashya Hawley) und Nichte (Kelsey Dobyns) als weitere Gesangsstimmen und die Kooperation mit den Streichern des Apollon Musagète Quartett und dem Klarinettisten Andreas Ottensamer bei. Die Stücke auf „Night Of Hunters“ sind Variationen auf Kompositionen von Satie, Mendelssohn, Bach, Mussorgsky und vielen mehr oder zumindest von diesen inspiriert. Das Album gewinnt aufgrund der Wechselwirkung von Tori Amos' bekannten Stärken mit dem vielfältigen klassischen oder neo-klassischen Ursprungsmaterial. Dieses Album ist nicht einfach ein Tori-Amos-Album sondern viel mehr.

In der gesamten Inszenierung schließt es logisch an den Vorgänger, das Weihnachtsalbum „Midwinter Graces“, an und führt es doch um vieles weiter. Die keltisch-mythologisch verbrämten Texte verstärken den Versuch, „Night Of Hunters“ mit „Ys“ oder „Have One On Me“ zu vergleichen. Zudem ist Natashya Hawleys kindliche Stimme doch sehr nah an Newsoms Vortrag. Die klassische Inspiration und die kammermusikalische Instrumentierung sowie Amos' eisig zärtlicher Gesang unterscheiden dann aber dies Album doch von diesen naheliegenden Bezügen. Zudem erklingt es insgesamt und durchgängig eingängiger als zum Beispiel „Ys“ – das dennoch als Bezugspunkt dienen muss.

Im Grunde ist es müßig, Einzelnes hervorzuheben, so sehr nimmt hier fast jeder Ton gefangen, verschlingt „Night Of Hunters“ den Hörer. Nur „Job’s Coffin“ zu hören, verschlägt schon die Sprache. Aber es wäre fahrlässig, nicht zu erwähnen, wie sehr es fasziniert, wenn Toris typischer Gesang und ihr unverwechselbares Klavierspiel in „Battle Of Trees“ Saties „Gnossienne No. 1“ variieren, und welche ungemeine zusätzliche Tiefe Holzbläser und Streicherquartett einem klassischen Amos-Arrangement hier, aber besonders auch in „The Chase“ geben. Überhaupt sind es die Streicher und Holzbläser, deren Einbindung eine Spannung erzeugen, die nicht nur das Meiste übertrifft, was Amos in den letzten zehn Jahren geschaffen hat, sondern auch das, was viele ihrer Kollegen im Folk, im emotionalen Piano- oder auch im Barockpop präsentieren. „Fearlessness“ oder „Edge Of The Moon“ zum Beispiel erreichen eine geradezu beängstigende Intensität. Aber selbst diese beiden Stücke bleiben zurück hinter der atemraubenden Schönheit des an Chopin angelehnten „Cactus Practice“. Schumann wiederum dient in „Your Ghost“ als Inspiration, und seine Harmonien nutzt Tori Amos, um im Text Bach und Beatles aufeinandertreffen zu lassen. In gewissem Sinne fasst dieses Stück die Dimensionen der Ambition und der erfolgreichen Umsetzung von „Night Of Hunters“ zusammen. Vor allem aber rührt „Your Ghost“ voller emotionaler Gewalt zu Tränen und ruft ein beglücktes Lächeln, ja gar Lachen, hervor. Himmelhochjauchzende Melancholie und zu Tode betrübtes Glück hat Amos auch früher schon vertont, aber ob es so intensiv war wie „Your Ghost“, kann bezweifelt werden. Allerdings schafft sie ähnlich Großes hier nicht nur einmal, denn auch (unter anderem) das rein instrumentale Wechselspiel von Flügel und Klarinette in „Seven Sisters“ (von Bach inspiriert) erreicht Ähnliches.

Natürlich ist auf „Night Of Hunters“ immer zu erkennen, dass es ein Tori-Amos-Album ist. Zu eigen ist ihr Gesang, zu speziell auch ihr Klavierspiel. Dennoch gewinnt man den Eindruck, dass Amos sich hier von Stücken hat inspirieren lassen, mit denen sie sich emotional und kreativ tief verbunden fühlt. Wenn in „Star Whisperer“ eine Klaviersonate Schuberts variiert wird, muss von einer kongenialen Verbindung von Amos und ihren Mitmusikern mit dem Ursprungsmaterial gesprochen werden. Gleiches gilt, wenn in „Nautical Twilight“ eines von Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ anklingt.

Im Grunde stellt Tori Amos bereits in der Albumeröffnung klar, dass uns hier Großes erwartet. Ihr energisches Klavierspiel, ihr dringlicher Gesang und die Intensität der Streicher nehmen sofort gefangen und erzeugen eine Spannung, die bis zu den letzten sanft ausklingenden Pianoanschlägen des Albums anhält. „Night Of Hunters“ ist ein großartiges und großes Album, das zu erkunden sowohl unterhält wie auch berührt, das in seiner Tiefe, seiner Vielfältigkeit, seinen intellektuellen wie auch emotionalen Dimensionen zum besten gehört, was – nicht nur – dieses Jahr veröffentlicht wurde.

Oliver Bothe

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