Rezension

Radiohead

In Rainbows [digital release]


Highlights: House Of Cards // Reckoner // Videotape
Genre: Aternative
Sounds Like: Sigur Rós // Bright Eyes // The Faint // Muse // Deerhoof

VÖ: 10.10.2007

Bahnbrechend, zukunftsweisend (engl: seminal). In den letzten Monaten oder gar Jahren und speziell seit Anfang Oktober 2007 war dies sicherlich das im Zusammenhang mit Radiohead am häufigsten genutzte Adjektiv. Zu Recht, haben uns doch „OK Computer“, „Kid A“ und „Amnesiac“ mit neuen Dimensionen des stadiontauglichen Rock verbunden. Dabei zeigten diese Alben neben der Kreativität vor allem das Wissen der Band um zeitgemäße Musik und überführten, was im „Underground“ schon länger der „heiße Scheiß“ war, in den Pop.

Drei Alben lang revolutionierten Radiohead die öffentliche Wahrnehmung dessen, was Pop sein kann. „Hail To The Thief“ dann sicherte das Niveau, verweigerte aber die erneute Revolution. Rückblickend – nachhörend – stand es trotz anfänglicher Enttäuschung und gleichzeitiger Überhöhung den Vorgängern nur wenig nach.

Das Spektakel, die „Revolution“ gibt es auf „In Rainbows“ ebenfalls nicht. Nicht in globaler Auswirkung. Im Bezug auf die Band jedoch schon. Nach den Experimenten von Kid A und Amnesiac, nach (orchestralen) Soundtrack-Arbeiten und Reggae-Compilations (Jonny Greenwood) und einem Solo-Album (Thom Yorke) legt sich die Band fest. Fest auf sich selbst. Will zum einen heißen, auch Radiohead kochen nur mit Wasser, und zum anderen, wo ihre „Nachfolger“ die U2-fizierung bereits mit dem zweiten Album angetreten haben, erreichen selbst Radiohead mit LP7 den Ort, an dem sie sich wohl fühlen, einen Stil, in dem sie sich gefestigt sehen.

Einen Stil, der zu Beginn mit „15 Step“ und „Bodysnatchers“ nahtlos bei HTTT ansetzt und elektrifiziert-perkussiven Radiohead-Rock bietet, was später von „Jigsaw Falling Into Place“ noch einmal aufgegriffen werden wird. „15 Step“ klingt altbekannt, in seinem sich wiederholenden Charakter jedoch auch neu. Hier schon klingt das neue Alte oder alte Neue am Radiohead-Klang durch. Die Bootlegs der 2006er Tour sowie die gewählten, im Folk verhafteten Support-Acts dieser Tour suggerierten bereits eine Reduktion der Mittel, eine Orientierung an klaren Strukturen. „In Rainbows“ charakterisieren in weiten Teilen eine neu gewonnene Klarheit sowie eine Einstellung des „weniger ist mehr“. So fällt aber zum ersten Mal auch auf, wie anstrengend Thom Yorkes exaltierter Gesang sein kann. Immer noch nuschelnd, aber wie schon auf seiner Einzel-Kür „The Eraser“ klar nach vorne gemischt, dominiert Yorkes Stimme und verdeckt gelegentlich die kleinen Feinheiten, jene Momente, in denen einem „die Kinnlade runterklappt“. Wo früher der Sinn der Worte vom Hörer erarbeitet werden wollte, fordern uns diesmal die instrumentalen Mittel.

Die Periode von „Kid A“ bis „HTTT“ dominierte eine elektronische und schlagzeuggeprägte Rhythmus-Orientierung. Ein Stilmittel, das unter Soundscapes und Schichten von Effekten nur eines von vielen war. Auf „In Rainbows“ tritt es selbst bewusst nach vorn. Ob als Staccato des Klaviers oder tatsächlich des Schlagzeugs und der Perkussion produziert, gliedert und strukturiert es die Songs. Als gemeinsames Element ergänzt dies zudem eine vordergründig langweilige Einfachheit, die aber bei intensivem Genuss eine geniale Klarheit verströmt. Sind die Anknüpfungspunkte zu HTTT erst einmal hinter uns, entspinnt sich ein Werk, schmerzhaft wie ein eisig kalter Wintertag, doch voller – und das ist neu – positiver Grundtöne, dem Versprechen eines nahenden Frühlings. Wie der Ursprung einiger Songs weist dieser klare und klagende Klang zurück auf Songs wie „No Surprises“ oder sogar „Creep“ – in der Form, wie letzteres sich inzwischen wieder in den Live-Katalog der Band gekämpft hat.

Klingen „15 Step“, „Bodysnatchers“ und „Jigsaw Falling Into Place“ phasenweise wie B-Seiten vergangener Alben, entschädigt der gesamte Rest. Eine Neubestimmung der Band, keine großen Innovationen, nicht die nächste große Herausforderung, die bis zum Auftauchen der 2006er Bootlegs erhofft werden konnte, sondern eine Besinnung auf die anderen Stärken, darunter die Fähigkeit zu berühren. Nicht die Provokation, sondern die sanfte Annäherung, das werbende, aber keineswegs anbiedernde Gewinnen stehen im Mittelpunkt. Schicht um Schicht müssen wir die Gebilde erfassen, um ihre Qualität zu erfahren. Eindeutig ein Radiohead-Album, eine Aufforderung zum Wiederentdecken und zur Einfachheit der Mittel. Keine Revolution, aber auch keine Stagnation, eine Entwicklung der kleinen Schritte, mit beeindruckenden Ergebnissen.

Oliver Bothe

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