Konzertbericht

Anathema


Meist ist es recht praktisch, wenn ein Konzert am Wochenende stattfindet. Mehr Gäste sind zu erwarten und die Veranstaltung kann aus diversen Gründen, vor allem den des Nahverkehrs, später anfangen, länger laufen und man kann sich die eine oder andere Vorband mehr gönnen. Wir schreiben den 2.10.2010 und am Abend dieses Tages spielen Anathema plus Gäste im Columbia Club zu Berlin. Mit etwas gemischten Erwartungen – das letzte Album war für Anathema-Verhältnisse eher mau und überproduziert – was Dauer und Setlist der Show angeht, steht man also kurz nach Einlass in der noch recht leeren Halle.

Nach einem kurzen Vorgeschmack auf die Hauptband – einer der Cavanagh-Brüder singt sich schon einmal auf dem WC ein – betritt ein einzelner Mann mit Gitarre die Bühne. Als erste Erwärmung darf Peter Carlson einige seiner Kompositionen darbieten. Solo mit Gitarre, das lässt doch auf eines schließen – richtig: Singer/Songwriter-Folk der Marke „Tagebuch vertont“. Carlson ist ziemlich freundlich und scheint sich ehrlich zu freuen, heute hier spielen zu dürfen, allerdings mehr als ein paar Sympathiepunkte und Höflichkeitsbeifall gibt es für ihn nicht. Zu billig die Texte, zu einfach die Melodien, zu sehr Gejammer in der Stimme.

Eine recht unerwartete Wendung nimmt der Auftritt erst, als Anneke van Giersbergen die Bühne betritt – genau jene van Giersbergen, die vielen noch als Frontfrau von The Gathering in Erinnerung ist. Nach zwei recht schnulzigen Duetten mit Carlson gibt sie auch wenige eigene Stücke zum Besten und zur Freude vieler auch Acoustic-Versionen alter The-Gathering-Hits. Eine gelungene Überraschung und ein schönes Erlebnis, noch einmal die Möglichkeit zu bekommen, diese zu hören. Mit etwas Wehmut versetzt, merkt man auch deutlich, wie die Qualität der von Giersbergen geschriebenen Stücke seit der Trennung ihrer alten Band gelitten hat.

Mit vier Stücken vom neuen Album „We’re Here Because We’re Here“ eröffnen Anathema ihr Set und lassen wohl für jene, die nicht dabei waren und das neue Album kritisch sehen, schlimme Befürchtungen wahr werden. Was allerdings in Berichten kaum wiederzugeben ist: Sie wirken anders. Der übertriebene Pop des glattgeschliffenen Albums ist bei diesen Stücken wie weggefegt, man wähnt sich fast inmitten von Großtaten wie „A Fine Day To Exit“ oder „A Natural Disaster“, die als nächstes von der Band gewürdigt werden. Man spielt sich nun zunächst rückwärts der Bandhistorie entgegen. Es war nach den aktuellen Auswüchsen nicht zu erwarten gewesen, dass die Musiker sich ihrer Metal- und Hardrock-Wurzeln zurückbesinnen, doch genau dort wird man Ende des Abends ankommen.

Wahnsinnig ist die Spielfreude der Band. Nachdem nach einer Stunde nochmals Stücke des aktuellen Werkes gespielt werden, erwartet man fast eine erste Verabschiedung und eine folgende Zugabe. Aber nein, es kommt alles anders. Nachdem zwei Nummern wirklich fast quälenden Schlagers mit unsinnigem 80er-Synthiepop-Sound die Begeisterung im Publikum etwas stoppt, kommt es zu einem Cut. Ab jetzt wird geschreddert. Viele Stücke von „Judgement“, Ausflüge in Metal oder 70er-Jahre-Punk, als absolutes Highlight „Lost Control“ mittendrin – die vielen Uraltfans mit zweistelliger Konzerterfahrung danken es frenetisch.

Einen Zugabenblock gibt es erstmals nach zwei Stunden. Vincent Cavangh – bislang eher als Backgroundsänger aktiv – wagt sich Unplugged und Solo an „Are You There“. Eine weitere Handvoll Stücke und ergreifende Publikumschöre später geht dann auch wirklich das Licht aus und man hat das Gefühl, heute Abend wirklich jeden Anathema-Song gehört zu haben. Nahezu unmöglich scheint es, dass die Band jeden Abend der Tour dieses Pensum durchziehen kann. Gut, dass es ein Samstagabend ist und die Zeit am nächsten Tag da ist, um all die Eindrücke dieser Show zu verarbeiten.

Klaus Porst